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"Wer viel liest, führt viele Leben, probeweise, tageweise."

 

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"Und doch hat Lesen immer gerade auch bedeutet: dass sich der Einzelne lesend eine eigene Welt erschafft."

Foto: Demonstrant auf dem Taksim-Platz in Istanbul; EPA/SEDAT SUNA

Karl-Markus Gauß.

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Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen ihre karge Lebenszeit auch damit zubringen, gelegentlich im Fernsehen die Übertragung von Tennisspielen anzuschauen, und wer sich noch an einen Champion der frühen Neunzigerjahre erinnern kann, der Jim Courier hieß. Er rechnete zu seiner Zeit jedenfalls zu den Besten seines Faches und war berühmt für den jähen Zorn, dessen Beute er wurde, wenn ihm eine Entscheidung des Schieds- oder Linienrichters ungerecht erschien, dann pflegte er entweder seinen Tennisschläger wütend auf den Boden zu werfen oder einen Ball irgendwohin in die oberen Ränge des Stadions zu schießen.

Dafür war er berühmt, richtiggehend berüchtigt aber war er für etwas anderes. Immer wenn zwei sogenannte Games ausgespielt sind, also nach drei bis zehn Minuten, haben die beiden Kontrahenten auf dem Platz bekanntlich die Seiten zu wechseln, und dafür bleiben ihnen genau neunzig Sekunden Zeit, die sie meist damit zubringen, sich mit isotonischen Getränken zu stärken und in diverse Rituale der Konzentration zu versenken. Jim Courier hingegen setzte sich auf seinen Stuhl, griff nach einem Buch, das er unter diesen gelegt hatte und - begann zu lesen.

Es sagt etwas über die Welt des professionellen Sports und damit über unsere Gesellschaft aus, dass er dafür im Wortsinne berüchtigt war, denn die Spieler, an denen er sich gerade zu messen hatte, empfanden sein Verhalten als demütigend, so als ob sie es nicht wert wären, dass sich ihr Gegner in der Pause mit Wichtigerem als einem Buch beschäftigte. Auch die Funktionäre der Tennisverbände hielten Courier gerne seine Arroganz vor, denn bei einem so bedeutenden Ereignis, wie es die - für lesende und schreibende Menschen unfassbar hoch dotierten - Tennisturniere darstellen, einfach ungerührt in einem Buch zu lesen, das schien ihnen nichts anders als eine Provokation zu sein.

Ich habe mich damals oft gefragt, was Jim Courier wohl für ein Buch gelesen hat - in kleine Portionen von immer nur höchstens neunzig Sekunden zerteilt. Und ich fragte mich auch, was er bei dieser in so kurze Segmente zerschnittenen Lektüre eigentlich suchte: Erholung, Entspannung, Entrückung? Was kann man in neunzig Sekunden überhaupt lesen? Nun, zum Beispiel ein längeres Gedicht, dem solch zügige Lektüre natürlich nicht gerade angemessen ist. Das seltsame Verhalten dieses seltsamen Sportlers gibt dennoch Anlass für einige Überlegungen.

Die erste, geradezu sensationell simple davon ist die: Wer neunzig Sekunden lang liest - und das Lesen nicht nur vortäuscht -, muss, ja er muss immerhin lesen können. Diverse Untersuchungen belegen, dass von unseren Schülern längst nicht mehr alle während ihrer Schulkarriere tatsächlich lesen lernen. Zufolge der letzten Erhebung in den vierten Klassen von Volksschule, Hauptschule und AHS in Wien soll sogar jeder fünfte der Zehn- beziehungsweise Vierzehnjährigen Schwierigkeiten dabei haben, sich einigermaßen sicher durch einen Text zu bewegen. Dass zwanzig Prozent der Wiener Schüler das Lesen in seiner elementaren Form nicht mehr ausreichend beherrschen, ist erschreckend. Seitdem ich vor dreißig Jahren Ciceros Brandreden wider den Verfall der Sitten und der Kultur im alten Rom gelesen habe, weiß ich allerdings, dass die abendländische Kultur, die man damals noch nicht so genannt hat, seit 2000 Jahren fortwährend damit beschäftigt ist zu verfallen.

Für die Leseschwäche einer immerhin beträchtlichen Zahl unserer Jugend wird und wurde alles Mögliche in Betracht gezogen: etwa dass in der Schule unfähige Lehrer mit untauglichen Methoden nicht einmal mehr in der Lage wären, das Grundlegende, nämlich Lesen, Schreiben, Rechnen, zu vermitteln. Oder dass die Eltern, pflichtvergessen, nicht mehr tun, was früher der selbstverständliche Brauch gewesen sei, dass sie ihren Kindern vor dem Schlafengehen noch ein halbes Stündchen Märchen, Kalendergeschichten, biblische Erzählungen vorgelesen haben. Oder dass die neuen Medien eine Generation nicht nur prägen, sondern geradezu verformen, der das Lesen einfach keinen Reiz mehr bietet, weil sich im Internet ganz andere - oder auch dieselben - Reize ohne die Anstrengungen, die das Lesen, vor allem das Erlernen des Lesens bedeutet, befriedigen lassen.

Um bei den Eltern anzufangen. Glaubt wirklich jemand, dass sich früher außer in den behüteten Kreisen einer im Vergleich zu heute wesentlich kleineren Mittelschicht irgendwer die Mühe gemacht, den Ehrgeiz aufgebracht oder überhaupt nur eine Idee von Sinn und Nutzen desselben gehabt hätte, mit seinen Kindern zu lesen? Wie hätten Eltern aus dem bäuerlichen Milieu oder aus dem Industrieproletariat dazu die Zeit, die Kraft aufbringen können?

In zahllosen Büchern, Lebenszeugnissen lesender Menschen von früher, wird beschrieben, dass Kinder, die lesen wollten, daran öfter gehindert als gefördert wurden, galt das Lesen doch als Vergeudung von Zeit, die mit Arbeit besser zu nutzen war, als Verführung zu einem Denken, das entweder als widersetzlich verpönt oder immerhin dazu angetan schien, den Kopf mit romantischen Flausen zu verwirren. Dem Kind, das zu gerne las, wurde die Brille als schreckliche Zukunft angedroht, denn zu lesen war nicht nur unnütz, sondern geradezu schädlich und ungesund, sodass viele Kinder, die sich doch in der Welt der Bücher verlieren wollten, dem Lesen wie einem geheimen Laster unter der Bettdecke oder in einem stillen Winkel von Haus oder Scheune frönen mussten.

Zugegeben, in den Fünfziger-, Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als nach dem Krieg langsam ein gewisser Wohlstand erreicht wurde, zugleich aber die meisten Frauen noch nicht in die Erwerbsarbeit integriert waren, wurde das Lesen mit den Kindern, das Vorlesen bei den Kleinen, das Zusammenlesen mit den Größeren als erzieherische Tugend entdeckt. Dass deswegen schichtenübergreifend mehr mit den Kindern gelesen wurde als heute, glaube ich trotzdem nicht.

Wenn ich mich an meine eigene Zeit in der Volksschule erinnere, also an die frühen Sechzigerjahre, sehe ich eine gewalttätige Lehrerin vor mir, die jede Stunde wieder den Zeigestab auf folgsam ausgestreckte Hände niedersausen ließ, und es waren jeden Tag dieselben Kinder, die solcher Erziehung ausgesetzt wurden, jene nämlich, deren Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht waren, weil sie zu Hause niemand kontrollierte, und die beim Vorlesen in schlimmes Stocken gerieten, weil es mit ihnen außerhalb der Schule niemand übte. Die zwanzig Prozent, über die wir heute zu Recht klagen, hat es wohl immer gegeben, nur war die Volkswirtschaft damals auch auf viele Menschen angewiesen, die körperlich anstrengende Arbeit leisteten, bei der die Fähigkeit zu lesen aber fast ohne Bedeutung war.

Was die ersten Pisa-Tests erwiesen, haben aufmerksame Lehrer und Lehrerinnen längst gewusst, dass es nämlich Schüler gibt, die das Lesen, Schreiben, Rechnen nur mangelhaft erlernen; nicht weil sie zu dumm dafür wären, sondern weil sie zu Hause in ihrem Lernen nicht unterstützt werden, und weil die Schulpolitik, bei Zusatz- und Förderunterricht, Sonderpädagogen und Betreuungslehrerinnen immer nur einzusparen, sie diesen Rückstand im Regelunterricht nicht aufholen ließ.

Was die neuen Medien betrifft, so geht von ihnen tatsächlich eine verführerische Kraft aus, aber dass so viele Kinder nicht richtig zu lesen und schreiben imstande sind, daran können sie allein nicht schuld sein. Denn auch um eine SMS zu verschicken, muss man ja schreiben können, selbst wenn einem die Entwickler neuer Mobiltelefone und dergleichen immer mehr an Bildelementen anbieten, sodass bei einer Mitteilung statt Wörtern Bildsymbole eingesetzt werden können.

Die Welt der Arbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, und das bedeutet unter anderem, dass heute kaum jemand mehr wie früher ohne Fertigkeiten in Lesen und Schreiben durch sein Berufsleben kommen kann. Wir sind bei den erwähnten zwanzig Prozent, die Schwierigkeiten haben, Ortsbezeichnungen und Straßennamen zu entziffern oder gar Betriebsanleitungen zu verstehen; bei Letzteren, muss ich einräumen, scheitere allerdings meist auch ich, wie mir erst kürzlich an einem verpatzten Nachmittag aufgefallen ist, an dem ich ein Handbuch, wie es für den Betrieb eines Großraumflugzeugs ausreichen müsste, Sinn erfassend zu studieren versuchte, um den nach einem Stromausfall unprogrammierten Fernseher wieder betriebsbereit zu machen.

Dass viele sich mit dem Lesen schwertun, ist also zum wirtschaftlichen Problem, zum Problem von Industrie, Gewerbe und Handel geworden - und zum Grund für zahllose Lebenstragödien von Menschen, die den Anforderungen, die ihnen das Erwerbsleben stellt, aus diesem einen Mangel nicht genügen können, auch wenn ihre technischen, handwerklichen, sozialen Begabungen sie durchaus zu anspruchsvoller Arbeit befähigten.

Es ist daher nicht verwunderlich, bezeugt zugleich aber die Armseligkeit der politischen und gesellschaftlichen Debatte, dass der Impuls, das Problem endlich zur Kenntnis zu nehmen und sich etwas zu seiner Lösung einfallen zu lassen, von der Wirtschaft gekommen ist. Sie sprang ein, weil die Politik hier gewohnheitsmäßig versagt und, befangen in einem uralten ideologisch verhärteten Kampf, die Klagen von Lehrern, die Warnungen von Bildungsvermittlern notorisch abgewiesen hat.

Wer sich mit dem Problem auch nur ein wenig befasst hat, weiß, dass es für die bessere schulische Förderung von Lesen und Schreiben vor allem eines bedarf: besserer Strukturen, die es ermöglichen, jenen, die im Erwerb dieser Kulturtechniken in Rückstand geraten, verstärkte Aufmerksamkeit, Anleitung, Hilfe zu geben. Es ist wohlfeil, darüber zu lamentieren, dass so und so viele Eltern ihren Kindern nicht als lesende Vorbilder zugetan sind, weil durch solche Jeremiade sich kein einziges Elternpaar, das selbst nicht liest oder gar nicht lesen kann, zum Lesen mit seinen Kindern bequemen wird.

Es bleibt also wieder nur die Schule, die nun aber auch der Ort sein oder werden muss, an dem das, was gelehrt wird, durch Übung und wieder Übung mit jenen Schülern, die dabei von ihren Eltern im Stich gelassen werden, auch trainiert und eingelernt wird. Das kann in den bestehenden Schulformen, die dafür einfach nicht die Zeit, die Räumlichkeiten, die Lehrkräfte zur Verfügung haben, nicht gelingen. Ich bin mir allerdings sicher, dass sich die schulischen Rahmenbedingungen hierfür in nächster Zeit doch verbessern werden, so infantil sich Gewerkschafter und Politiker auch aufführen; und dass die Zahl der Schüler, die in der Schule zum Lesen befähigt werden, in den nächsten Jahren steigen wird.

Aber damit sind wir ja erst bei dem angelangt, um das es beim Lesen im emphatischen Sinne geht: bei jenem Lesen, das die Wirtschaft gerade nicht gemeint hat, wenn sie die Leseschwäche der Schulabgänger anprangerte. Kein Vertreter der Wirtschaft wird bei der erwünschten Steigerung des Lesevermögens nämlich an Angestellte gedacht haben, die regelmäßig Romane und Gedichte lesen und sich dank deren Lektüre vorstellen können, dass es auch andere Formen des Zusammenlebens und andere Lebensziele geben könne als jene, die der ökonomischen Verwertung frommen.

Und doch hat Lesen immer gerade auch das bedeutet: dass sich der Einzelne lesend eine eigene Welt erschafft, die mit der seinen vielfältig zu tun hat und auf diese auch zurückwirkt, die aber eben doch eine andere, eine Gegen-Welt darstellt, die ihm in seinem Denken und Empfinden einen weiten Raum der Erfahrung wie der Vorstellung öffnet; dass er lesend in einen anderen Zustand gerät, in dem er, mit fremden Schicksalen befasst, sein eigenes neu sehen lernt. Lesen ist Entrückung, wir geraten außer uns und gelangen gerade dadurch erst wieder ganz zu uns, und indem wir uns in den Biografien, den inneren und äußeren Konflikten, den Gefühlen fremder Menschen verlieren, werden wir uns unserer eigenen bewusst. Wer liest, führt viele Leben, probeweise, tageweise, und da ihm biologisch doch immer nur dieses eine bleibt, das er hat, wird er es, durch die Lektüre bestärkt oder verunsichert, womöglich anders zu gestalten versuchen, als es ihm vorgegeben wurde.

Wie ist es um diese Literatur bestellt, deren Notwendigkeit gerade in ihrer praktischen Überflüssigkeit besteht? Die wir brauchen, eben weil sie unmittelbar zu gar nichts nütze ist und uns dadurch von dem Zwangsdenken befreit, dass alle Dinge, Begabungen, Tätigkeiten, Beziehungen immer etwas nützen, einen Vorteil eintragen müssen? Die uns aus der Bahn wirft, wo wir auf den Schienen der Gewohnheit dahinrollen, und uns auf neue Spuren setzt, wenn wir in der Unübersichtlichkeit unserer eigenen Existenz nicht mehr recht wissen, wohin es mit uns geht, ja, wohin wir selber eigentlich wollen?

Was das Ansehen dieser Literatur betrifft, hat sie in den letzten Jahren eine dramatische gesellschaftliche Abwertung erfahren, daran ändern keine Rankings mit den vermeintlich besten Neuerscheinungen in den Zeitungen, keine Society-Geschichten um ein paar prominente Bestsellerautoren in Magazinen und keine Tonnagen an Kochbüchern, vorgelegt von den bekannten Fernsehgrinsern, auch nur das Geringste.

Diesen Verlust an Ansehen kann man in Österreich politisch an den Äußerungen von zwei Politikern fassen, die beide die vielleicht erfolgreichsten ihrer Generation darstellen. Ich weiß nicht, ob Bruno Kreisky in seiner Freizeit tatsächlich am liebsten in Robert Musils monumentalem Essayroman Der Mann ohne Eigenschaften gelesen hat oder ob er damit nur renommieren wollte, jedenfalls hielt er das Lesen von Büchern für etwas, von dem er glaubte, dass man mit ihm renommieren könne. Ich weiß hingegen definitiv, dass der Landeshauptmann von Niederösterreich mehr Bücher als nur eines gelesen hat und trotzdem damit renommiert, in seinem Leben einzig den Schatz im Silbersee zu Ende gebracht zu haben.

Was heißt das für die Entwicklung einer Gesellschaft, wenn ein Politiker früher mit einer literarischen Bildung prunkte, die er vielleicht gar nicht hatte, während ein Politiker heute damit prahlt, literarisch so desinteressiert zu sein, wie er vermutlich gar nicht ist? Wir befinden uns hier genau an jener Schnittstelle, vor der literarische Bildung noch etwas war, das ein sozialistischer Politiker als bildungsbürgerliches Ideal hütete, und hinter der ein bürgerlicher Politiker diese verleugnet, um sich den imaginierten Massen als volksverbundener Klachel zu präsentieren.

Wenn ich mir das Leitmedium unserer Bildung ansehe und gelegentlich die Talkshows, Seitenblicke, Promisendungen der diversen Fernsehanstalten zu Gemüte führe, muss ich konstatieren: Früher fürchtete selbst der Dummkopf, in der Öffentlichkeit als dumm zu erscheinen; heute ist die Furcht, womöglich als verbiesterter Intellektueller oder als realitätsfremde Leserin zu gelten, die keinen Spaß an der Inszenierung der Dummheit haben, ungleich größer. Kaum dass die Kamera läuft und das Mikrofon eingeschaltet ist, beginnt ein hysterischer Wettkampf, wer sich dem Publikum als der Dümmere unter den Dummen zu präsentieren weiß.

Wo die Dummheit ein Bildungsideal geworden ist, auf das man durch fleißige Arbeit an der medialen Selbstverblödung hinarbeitet, dort hat es die Literatur schwer. Nicht weil sie nichts dazu zu sagen wüsste, sondern weil es für überflüssig, wenn nicht lächerlich gilt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Da ich nicht allzu großes Zutrauen in die medialen Selbstheilungskräfte habe, bleibt mir wieder nichts, als auf die Schule zurückzukommen.

Sieht man sich die Lehrpläne der österreichischen Schulen an, muss man jedoch von einer schleichenden Abschaffung der Literatur im Unterricht sprechen. Vor lauter Panik, nur ja genügend Schüler dazu zu befähigen, eine Gebrauchsanleitung verstehen und einen Leserbrief verfassen zu können, sind die Planer des Deutschunterrichts in der Schule auf dem besten Wege dazu, das Schlechteste zu machen, nämlich den Kindern, der Schule und in der Folge der Gesellschaft die Literatur auszutreiben. Letztens habe ich all die wütenden Memoranden durchgesehen, mit denen sich Gymnasialprofessoren des Faches Deutsch an die davon völlig unbeeindruckte Öffentlichkeit gewendet haben. Alle diese Beschwerden besagen nichts anderes, als dass man in Österreich bis zur Maturareife gelangen kann, ohne im gemeinsamen Unterricht je ein einziges Buch zur Gänze gelesen zu haben. Es bleibt dem einzelnen Lehrer zwar freigestellt, es mit seiner Klasse dennoch zu tun, aber die Kenntnis einer bestimmten Anzahl von literarischen Werken, die Befähigung, diese aus ihrer Zeit und mit einem Bezug auf die eigene Existenz zu lesen, die Begeisterung, dieses auch immer wieder zu versuchen - das alles sind keine Bildungsziele mehr, wie sie für das Unterrichtsfach Deutsch vorgegeben sind.

Die schöne Literatur, allenfalls das Hobby einiger Käuze, wie sie sich innerhalb jedes Lehrkörpers und jeder Klasse finden, aber kein Wert für sich, der den Menschen zu etwas befähigt, wozu ihn gerade die Literatur befähigt: zum spielerischen Denken in vielen Varianten, zum emphatischen Versenken in das Leben, das Glück und die Tragik anderer, zu der großartigen Errungenschaft der Menschheit als Gattung, sich ihrer in individuellen Zeugnissen individueller Schicksale gleichwohl als Gemeinschaft zu erfahren.

Wo in der Schule nicht mehr ganze Texte, und sei es über ein paar Wochen hin, gemeinschaftlich gelesen und debattiert werden, dort wird die Dichtung marginalisiert, und das ist ein Schaden, der sich zwar wirtschaftlich nicht quantifizieren lässt, der für die Zivilisation selbst aber enorm ist. Und wenn bei Schularbeiten und sogar bei der schriftlichen Matura die sprachlich-literarische Kompetenz in Häppchen abgefragt wird, dann ist das ein Rückschritt; dieser wird zwar gerne mit allerlei demokratischen Floskeln begründet (etwa dem erzblöden Argument, dass ein "literarischer Kanon" per se etwas Reaktionäres sei), aber vor ihm gilt die Ermächtigung der Schüler zu leidenschaftlichen Lesern für nichts, zu Lesern, die den weiten Raum, der sich in der Lektüre umfangreicher und jedenfalls vollständiger Texte öffnet, zu durchmessen in der Lage sind und die auch die Lust dazu verspüren.

Jim Courier, der in den Pausen der Tennisspiele zu Büchern griff, bleibt ein Held des Lesens; aber die Lektüre auf die neunzig Sekunden zu stutzen, die ihm zur Verfügung standen, kann kein bildungspolitisches Ziel sein und raubt jenen, die zum Lesen finden sollen und oft auch wollen, eine befreiende Erfahrung, die sie anders als im Lesen nicht machen können. (Karl-Markus Gauß, Album, DER STANDARD, 22./23.6.2013)