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Es war eine Feuernacht in vielen brasilianischen Städten (im Bild: Rio). In der Hauptstadt Brasília stürmten Demonstranten das Außenamt. Präsidentin Dilma Rousseff sagte eine Auslandsreise ab.

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Brasília/Puebla - In Brasilien haben sich die Proteste zugespitzt. Obwohl die Fahrpreiserhöhungen, die vor zwei Wochen den Unmut entzündet hatten, in den meisten Städten inzwischen wieder zurückgenommen wurden, demonstrierte am Donnerstagabend erneut fast eine Million Menschen in rund 100 Städten des Landes. Sie forderten Korruptionsabbau und bessere öffentliche Leistungen. Mehr als 50 Demonstranten wurden ersten Polizeibilanzen zufolge verletzt, in mehreren Städten kam es zu Vandalismus und Plünderungen, ein Teilnehmer wurde von einem Auto überfahren und getötet.

Die Demonstranten stürmten das Außenministerium in Brasília; nur ein enormes Polizeiaufgebot hielt sie davon ab, sich auch dem Präsidentenpalast zu nähern. Staatschefin Dilma Rousseff sagte angesichts der Lage eine einwöchige Japanreise ab und beraumte für Freitag eine Krisensitzung des Kabinetts an.

Unparteiische Volksbewegung

Zuvor hatte die regierende Arbeiterpartei (PT) versucht, auf den fahrenden Zug aufzuspringen und ihre Mitglieder aufgefordert, mit den Demonstranten auf die Straße zu gehen. In der Industriemetropole São Paulo wurden die Politiker jedoch ausgebuht, als sie von den zumeist jugendlichen Demonstranten aus der Mittelschicht entdeckt wurden. Die Protestierenden verstehen sich als unparteiische Volksbewegung. Einer neuen Umfragen zufolge unterstützen 77 Prozent der Brasilianer die Demonstrationen.

"Die Rücknahme der Erhöhungen ist ein großer Sieg des Volkes", sagte die 19-jährige Luisa Mandetta von der Bewegung für kostenlosen Nahverkehr in São Paulo, die zur allerersten Kundgebung aufgerufen hatte. "Fortan werden wir uns weiter für den Gratis-Transport einsetzen, der unser eigentliches Ziel ist."

Mafia-Duopol

Der öffentliche Nahverkehr in São Paulo ist nach Angaben der Universitätsprofessorin Marilena Chauí in der Hand eines mafiaähnlichen Duopols, das nicht davor zurückschreckt, Gewerkschafter zu ermorden, und dessen Fahrzeuge in einem kläglichen Zustand sind. Vielen Demonstranten geht es aber auch um anderes, in Belo Horizonte stand die Korruption im Vordergrund. "Nein zur Straffreiheit, ja zu Bildung und Krankenhäusern", war auf Transparenten zu lesen. In Brasília, wo sich die zumeist jugendlichen Teilnehmer vor dem Kongress versammelten, kritisierten sie unter anderem ein Gesetzesvorhaben, mit dem die Abgeordneten psychologische Behandlung zur "Heilung von Homosexualität" legalisieren wollen. Andernorts gab es vor allem Kritik an den teuren Bauvorhaben für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014.

In São Paulo gingen 70.000, in Manaus 50.000 auf die Straße. Die größte Anzahl versammelte sich in Rio de Janeiro. Auf 300.000 Teilnehmer schätzte die Bundesuniversität die Zahl der Demonstranten, die die Innenstadt lahmlegten. Die Polizei blockierte nach kleineren Zusammenstößen die 13 Kilometer lange Brücke, die Rio mit der Zwillingsstadt Niteroi verbindet. Das Maracana-Stadion, in dem zeitgleich das Confederations-Cup-Spiel Spanien gegen Tahiti stattfand, wurde ebenfalls von der Polizei abgeriegelt. Im Inneren des Stadions erklärten zahlreiche Zuschauer per Spruchband ihre Solidarität mit den Demonstranten. "Wir wollen Schulen und Krankenhäuser auf Fifa-Niveau", war auf einem zu lesen.

Auch Neymar protestiert

Die teuren Stadien für die Fußball-WM sind einer der Hauptkritikpunkte der Demonstranten. Auch zahlreiche Spieler der brasilianischen Fußball- Nationalmannschaft haben sich solidarisiert. "Ich will ein gerechteres, sichereres, gesünderes und transparenteres Brasilien", sagte Stürmer Neymar auf Facebook.

Die Landeswährung Real sowie der brasilianische Aktienindex Bovespa fielen jeweils auf den niedrigsten Stand seit vier Jahren und spiegelten damit die Verunsicherung der Wirtschaft wider. (Sandra Weiss, DER STANDARD, 22.6.2013)