Die EU hätte einen Fehler begangen, die nächste Runde der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen, als wäre in den letzten Wochen nichts geschehen, so als hätte es die Niederknüppelung der Demonstrationen nicht gegeben. Denn Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt kämen einer Anerkennung der Brutalpolitik von Tayyip Erdogan gleich.

Die EU würde aber einen noch gewichtigeren Fehler begehen, wenn sie der türkischen Gesellschaft die Option auf einen Beitritt in den nächsten zehn Jahren überhaupt nähme. Das nämlich wäre im Effekt eine "Bestrafung" der hunderttausenden Demonstranten im ganzen Land, die in einem "europäischen Geist" und nicht in der Façon des "arabischen Frühlings" gegen Erdogans diktatorische Vorstöße protestieren.

Erdogans Rhetorik, die sogar den friedlichen Protest bereits als "Terrorismus" sieht, hat mitten im aggressiven Gepolter den EU-Beitritt als "nützlich" für den Reformweg bezeichnet. Was einerseits stimmt: Abschaffung der Todesstrafe, (offizielle, kaum tatsächliche) Abschaffung der Folter, Appeasement gegenüber den Kurden sind Schritte, die ohne EU-Option in einem mehrheitlich islamischen 75-Millionen-Volk nicht gelungen wären.

Erdogans "Nützlichkeit" hat jedoch vor allem ein Ziel: Die türkische Wirtschaft mit jener der EU noch enger als durch die seit 1996 bestehende Zollunion zu verknüpfen. Das hat der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs in einer Analyse zu wenig differenziert gesehen:
Obwohl die Türkei über keine Öl- und Gasvorkommen verfügt, habe ihr Wachstum zwischen 2002 und 2012 um jährlich rund 5 % zugelegt. Der Einwand: Hauptgrund sind riesige infrastrukturelle Investitionen wie der neue Mega-Flughafen von Istanbul, die dritte interkontinentale Brücke mit Baukonzernen aus den USA und China sowie der Ausbau der Turkish Airlines.

Genau diese "Ökonomisierung" ist einer der Haupt-Kritikpunkte der Demos auf dem Taksim-Platz. Schleifung eines Atatürk-Kulturzentrums zugunsten von Mega-Einkaufszentren, Schleifung osmanischer Stadtstrukturen zugunsten von Wohn- und Büro­maschinen. Auch das erinnert stärker an die brasilianischen Proteste gegen den Geldregen für die Fußball-WM als an die Slogans am Kairoer Tahrir-Platz und anderswo.

Natürlich darf das Problem des Islamismus nicht ausgeklammert werden. Aber die Ängste vor einem Zustrom anatolischer Arbeiter nach einem EU-Beitritt erinnern an die Boulevard-Aufmacher vor der Osterweiterung: Millionen würden sich über Österreich ergießen. Angstmache.

Ja, nur 30 Prozent der 75 Millionen Türken haben eine Volksschule absol­viert – aber wie bei unseren Nachbarn würde eine Integration mit der EU die regionalen Strukturen und damit die Bleibe-Tendenzen verstärken.Umgekehrt gehört die Türkei zu jenen Ländern, die überproportional viele junge Leute auf international bedeutende Universitäten schicken können.

Die Türkei hat Ost-Anatolien, Europa hat die albanischen Verhältnisse, die Rückständigkeit in Kalabrien, in Sizilien. Da wie dort das Triste.

Von Erdogan müssen wir die Freilassung der inhaftierten Journalisten und die Beachtung der Grundfreiheiten verlangen. Der türkischen Gesellschaft müssen wir die EU-Option offenhalten. Europa ist eine säkulare Gesellschaft, vorrangig der Aufklärung und der Toleranz verpflichtet. (DER STANDARD, 22.6.2013)