Wer dachte, dass das geheime amerikanische Abhörprogramm Prism alle Dimensionen sprengte, darf umdenken. Seit 18 Monaten, so enthüllte die britische Zeitung Guardian am Wochenende, läuft eine geheime Operation des britischen Abhördienstes Government Communications Headquarters (GCHQ): Tempora überwacht den Internetverkehr, indem es das Netzwerk der großen Glasfaserkabel anzapft.
Die dadurch abgeschöpfte gigantische Datenmenge wird auf Schlüsselwörter durchsucht und kann bis zu 30 Tage gespeichert werden; die amerikanische National Security Agency (NSA) hat Zugang zu diesen Daten. Damit stellt Tempora, was Umfang und Art der Datenmenge angeht, das US-Abhörprogramm Prism weit in den Schatten.
Laut Guardian ist das GCHQ in der Lage, über 200 Glasfaserkabel anzuzapfen und 46 davon gleichzeitig zu überwachen. Prism hat lediglich einen direkten Zugriff auf die Server – und damit auf die privaten Nutzerdaten von neun großen Internetunternehmen wie Twitter, Google oder Facebook.
Tempora dagegen bekommt alles mit: Telefongespräche, den Besuch einer Website oder den Inhalt einer E-Mail – es ist, wie der Guardian schätzte, die Rohmasse von 600 Millionen Kommunikationen täglich, die von GCHQ mitgelauscht wird. 300 GCHQ- und 250 NSA-Mitarbeiter sind rund um die Uhr damit beschäftigt, den Datenstrom auszuwerten. Laut Datenschutzexperten ist das Programm dennoch legal – es nutzt Schlupflöcher in der britischen Gesetzgebung.
"Tempora ist", urteilte der amerikanische Whistleblower Edward Snowden, "das größte Programm einer verdachtsunabhängigen Überwachung in der Geschichte der Menschheit." Snowden war der NSA-Mitarbeiter, der den Stein ins Rollen brachte und danach nach Hongkong flüchtete. Er ist soeben von den US-Behörden der Spionage angeklagt worden, die seine Auslieferung durch China betreiben wollen. Snowden reagierte darauf mit der Übergabe von Dokumenten an die Zeitung South China Morning Post, die belegen sollen, dass die NSA chinesische Telefonunternehmen und auch die Tsinghua-Universität in Peking gehackt haben soll.
"Wir meistern das Internet"
"Das GCHQ", hatte Snowden zuvor gegenüber dem Guardian unterstrichen, "ist schlimmer als die USA." Aufgrund der von ihm enthüllten Dokumente denkt das auch der britische Abhördienst selbst. In einem internen Memo heißt es, dass das GCHQ "größere Mengen von Metadaten als die NSA produzieren kann" und den "größten Zugang zum Internet" unter den "Fünf Augen" hat. Mit diesem Begriff wird die Schnüffelallianz der Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands bezeichnet.
Großbritannien konnte in dieser Allianz die Marktführerschaft erobern, indem man einen Weg fand, die transatlantischen Glasfaserkabel, durch die das Internet kommuniziert, anzuzapfen und die ungeheuren Datenmengen zu speichern. "Wir meistern das Internet", jubelte das Memo, "wir befinden uns in einem goldenen Zeitalter." (Jochen Wittmann aus London /DER STANDARD, 24.6.2013)