Rechtsstaatlichkeit, innere Sicherheit, nationale Grenzkontrollen: Justiz- und Innenpolitik sind Kernbereiche nationaler Souveränität. Entsprechend lange dauerte es, diese Bereiche innerhalb der EU zu vergemeinschaften. Erst ab Ende der 1990er Jahre wurden signifikante Kompetenzen an das EU-Parlament übertragen. Menschen- und Bürgerrechtsgruppen hatten sich im Zuge dieser Entwicklung kräftige Unterstützung ihrer Anliegen erhofft - und wurden enttäuscht. Im Gegenteil: es kam zu einer Abwendung des EU-Parlaments von vorherigen - liberaleren - Positionen. Das ist eines der wesentlichen Ergebnisse eines FWF-Forschungsprojekts am Institut für europäische Integrationsforschung der Universität Wien, die vergangene Woche auf einer Diskussionsveranstaltung in Wien präsentiert wurden.
Für den Projektleiter Florian Trauner lassen sich die Ergebnisse eindeutig zusammenfassen: "Die Grundpfeiler der EU-Justiz- und -Innenpolitik wurden durch die Stärkung des Europäischen Parlaments nicht verändert." Wie es überhaupt zu der Erwartungshaltung an das Europaparlament - und der nun entstandenen Enttäuschung - kam, erklärt ein Blick zurück: In den 1990er-Jahren waren das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof nicht in die zwischenstaatliche Kooperation der EU-Mitgliedstaaten eingebunden. Doch mit zunehmender Vertiefung dieser Kooperationen wuchs die Kritik an fehlender parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle.
Liberaleres EU-Parlament
"Vor dem Hintergrund dieser wachsenden Kritik einigte man sich schlussendlich auf eine Vergemeinschaftung der EU-Justiz- und -Innenpolitik", erläutert Trauner weiter. "Das bedeutete vor allem auch mehr Mitspracherecht für supranationale EU-Institutionen wie das Europaparlament." Damit wuchs die Hoffnung, dass das Europäische Parlament seine bisher liberaleren Positionen mit mehr Gewicht als bisher in die politische Waagschale werfen könnte. Was aus dieser Hoffnung wurde, untersuchte Trauner gemeinsam mit Ariadna Ripoll Servent.
Dazu wurden systematisch die Asyl- und Einwanderungspolitik, die Terrorismusbekämpfung, das Straf- und Zivilrecht sowie der Datenschutz analysiert. Dabei wurde ein Zeitraum von über 20 Jahren abgedeckt. Zahlreiche Interviews mit EU-ParlamentarierInnen, Angestellten der EU-Kommission und mit Beamten der Mitgliedsstaaten wurden durchgeführt und ausgewertet. So konnten verschiedene Positionen der EU-Institutionen im Rechtssetzungsprozess nachvollzogen und ihre Veränderungen über die Zeit nachgezeichnet werden.
Gestärkte Rechte und neues Mitspracherecht
Die Ergebnisse der Auswertung fielen überraschend klar aus: In vielen Fällen hatte das Europaparlament seine ursprüngliche Positionierung aufgegeben und die oftmals restriktiveren Verhandlungspositionen des Ministerrats akzeptiert. Dies zur Enttäuschung vieler Bürger- und Menschenrechtsorganisationen. Als Erklärung für diese Entwicklung führt Trauner an: "Zum einen wurden mit den letzten Wahlen rechtskonservative Fraktionen im Europäischen Parlament gestärkt, zum anderen entstand durch das neue Mitspracherecht auch ein neues Rollenverständnis."
Dieses, so fand das Team, wuchs mit dem neuen Mitspracherecht des Parlaments, das es schwieriger machte, Forderungen zu stellen, die am Ende wenig Aussicht auf Realisierung hätten. Auch wurden die EU-ParlamentarierInnen empfänglicher für Argumente, nichts zu beschließen, was die Sicherheit Europas gefährden könnte.
Das Projekt des FWF zeigte damit also, dass der institutionelle Wandel der EU nicht zu einer Neuausrichtung dieses wichtigen Politikbereichs führte, sondern zu einer neuen Positionierung des Europäischen Parlaments. Damit bietet das Projekt einen einmaligen Einblick in die dynamische Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Politik - und so in einen Wandel, der alle BürgerInnen der EU unmittelbar betrifft. (red, derStandard.at, 23.06.2013)