Er werde sofort gehen, wenn er 2016 abgewählt werde, versichert Mohammed Morsi seinen Gegnern, die Neuwahlen fordern. Das glaubt man ihm – denn anders als in Autokratien kommt es im Muslimbrüder-Ägypten auf einzelne Personen nicht so sehr an: Es ist ein System, das auf vielen Schultern ruht. Morsi, der vor einem Jahr Präsident wurde, war ja nicht einmal die erste Wahl innerhalb der Organisation, sondern ersetzte Khairat al-Shater, der wegen der US-Green-Card seiner Mutter nicht antreten durfte.
Die Ikhwanisierung (Ikhwan = Brüder) Ägyptens findet auf vielen Ebenen statt, eingesetzt hat sie bereits unter Hosni Mubarak, als die 1928 gegründete religiöse Bruderschaft nach und nach die Berufsverbände eroberte. Dort geht es jetzt schon wieder in die andere Richtung, aber in den staatlichen Institutionen haben die Brüder erst einmal freie Bahn.
Dabei hatten sie nach dem Aufstand im Februar 2011 – den sie in einer ersten Phase fast verschlafen hätten – versichert, nicht die ganze Macht im Staat anzustreben. Nicht einmal in allen Wahlbezirken antreten wollte die 2011 gegründete Muslimbrüderpartei FJP (Freiheits- und Gerechtigkeitspartei) bei den Parlamentswahlen und keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen. Aber der Wille zur Macht setzte sich durch: 45 Prozent – mit Abstand die stärkste Partei – bei den Parlamentswahlen im Winter 2011/2012, und dann die Präsidentschaft.
Als Morsi vor einem Jahr gewählt wurde, wurden die Muslimbrüder noch eindeutig auf der Seite der Revolution stehend wahrgenommen. Bis dahin ging es darum, den Generälen, die am 11. Februar 2011 Mubarak zum Rücktritt gezwungen hatten, die Macht wieder abzujagen. Als der Militärrat während der laufenden Präsidentschaftswahlen – als der Sieg Morsis nicht mehr zu verhindern war – per Dekret eine lahme Ente aus dem Präsidenten machen wollte, waren aber schon die ersten Ägypter im Dilemma: Vielleicht war ein bisschen weniger Demokratie doch besser als allzu mächtige Muslimbrüder?
Mit den Militärs hat sich Morsi später arrangiert: Sie ließen es sogar zu, dass er – Anlass war das Sicherheitschaos auf dem Sinai – die Armeespitze austauschte. Dafür genießt die Armee weiter einen Sonderstatus in der Verfassung. Ob sie, wenn es darauf ankäme, für oder gegen Morsi eingreifen würde, weiß niemand so genau.
Im Dauerclinch liegt Morsi mit Teilen der Justiz: Die Parlamentsauflösung wegen eines verfassungswidrigen Wahlrechts wurde von den Ikhwan als Versuch aufgefasst, sie um ihren legitim erworbenen Sieg zu bringen. Als Morsi die Gefahr heraufdämmern sah, dass der verfassungsgebende Prozess durch die Justiz gestoppt werden könnte – die Verfassungskommission war vom aufgelösten Parlament kreiert worden – verfügte er per Dekret die Unantastbarkeit seiner Entscheidungen. Zwar musste er später wieder zurückkrebsen, aber sein Ziel, die umstrittene neue Verfassung durchzubringen, erreichte er.
Der neueste Vorstoß der Justiz gegen ihn ist die Eröffnung von Ermittlungen über die Flucht Morsis – und anderer prominenter Muslimbrüder – aus dem Gefängnis während des Aufstands 2011. Die Absicht ist klar: Es soll quasi bewiesen werden, dass Morsi heute noch sitzen sollte.
Ägypten ist tief gespalten, wobei jener Sektor der Gesellschaft, der weder Mubarak noch Morsi will, auf verlorenem Posten scheint. Auf dem Boden der Enttäuschung wachsen die Verschwörungstheorien: Die USA hätten die Muslimbrüder an die Macht gebracht, heißt es oft. Wahr daran dürfte sein, dass die Muslimbrüder, als sich der Sieg Morsis abzeichnete, die USA kontaktierten und ihnen versicherten, dass sich am US-ägyptischen Verhältnis nichts ändern werde, inklusive der Treue zum Friedensvertrag mit Israel. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, 24.6.2013)