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Auch der Schmerz über einen verpassten Aufstieg seiner Fußballmannschaft kann zu Tränen rühren. Das Weinen habe vor allem eine soziale Funktion, sagen Wissenschafter.

Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch

Alle Landsäugetiere produzieren Tränen, um ihre Augen vor dem Austrocknen zu schützen. Der Mensch jedoch ist ein Sonderfall. Denn er vergießt Tränen auch bei Hochzeiten und Geburten, bei Trennungen und Beerdigungen. Er weint, wenn er bewegenden Melodien lauscht, bei tragischen Filmszenen oder wenn die eigene Fußballmannschaft siegt oder verliert. Forscher sprechen in diesen Fällen von emotionalen Tränen. Bis heute geben diese Tränen der Wissenschaft Rätsel auf: Warum weint der Mensch überhaupt? Welchen Überlebensvorteil hatten schluchzende Menschen gegenüber denjenigen, die das Heulen sein ließen?

Theorien dazu gibt es reichlich. Angefangen bei der Weiße-Flagge- Theorie, nach der Tränen Angreifer milde stimmen, bis hin zur Lesart, dass Tränen psychisch reinigen und entspannen. Die meisten Wissenschafter sind sich heute einig, dass Tränen ein soziales Signal sind. "Tränen signalisieren Hilflosigkeit", sagt der niederländische Psychologe Ad Vingerhoets von der Universität Tilburg, "wer weint, ruft bei anderen Hilfsbereitschaft hervor."

Vingerhoets beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den zahlreichen Facetten dieses einzigartigen menschlichen Verhaltens und gibt in seinem neuen Buch Why only humans weep ("Warum nur Menschen weinen") einen umfangreichen Überblick. Seiner Meinung nach ist das Weinen der Menschen eine Weiterentwicklung der bei Säugetieren weitverbreiteten Warnlaute.

Erdmännchen etwa pfeifen beim Anblick eines Adlers und rennen in ihre schützenden Höhlen. Menschenbabys weinen, wenn sie in Mamas schützende Arme wollen. Auch weinende Erwachsene suchen letztendlich Beistand. " Hilflosigkeit ist das Kerngefühl beim Weinen. Selbst wenn man aus Freude weint, geschieht dies aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus. Die Gefühle überwältigen einen, und man weiß nicht, wie man damit umgehen soll", erklärt Vingerhoets.

Im Laufe seines Lebens verändert sich das Weinverhalten des Menschen. Als Baby und Kleinkind weinen wir am häufigsten und sichern uns damit unser Überleben. Denn selbst bei fremden Erwachsenen löst ein weinendes Kind Zuwendung aus.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie zeigte der Psychologe Mariano Choliz von der Universität Valencia, dass Erwachsene vor allem dann auf das Weinen von Babys und Kleinkindern reagieren, wenn es durch Schmerzen verursacht wird. Schrien die Kinder hingegen aus Wut, reagierten die Probanden nicht so empfindlich.

Männer weinen alle 60 Tage

Bis zur Pubertät weinen Mädchen und Jungen ungefähr gleich häufig. Danach gehen sie getrennte Wege. Während Frauen durchschnittlich zwei- bis viermal pro Monat weinen, tun Männer es einmal in zwei Monaten. Frauen weinen außerdem länger und intensiver und aus anderen Gründen als Männer. Besonders häufig weinen sie, wenn sie sich machtlos fühlen und sich nicht zu helfen wissen.

Dabei kann es sich auch um so banale Dinge handeln wie ein geplatzter Autoreifen oder ein Computer, der nicht mehr hochfahren will. Männer fluchen in solchen Situationen. Sie weinen eher aus Freude oder wenn sie stolz sind, etwa einen Sieg erringen.

In solchen Situationen sind Tränen auch gesellschaftsfähig. Wenn Tennisstar Roger Federer weint, fliegen ihm die Herzen zu, weil er menschlich wirkt. Wenn Barack Obama bei einer Rede feuchte Augen bekommt, steigen seine Umfragewerte. "Tränen von bekannten Personen wie Sportlern oder Politikern können einen sehr großen Effekt auf ihre Popularität haben", sagt Vingerhoets.

Wehe aber, wenn dem Durchschnittsmann die Tränen über die Wangen kullern, während er sich einen rührseligen Film anschaut. Schnell ist der Ruf ruiniert, und man(n) gilt als Jammerlappen. "Kinder und Frauen weinen häufiger als Männer. Deshalb gelten Tränen als Waffe der Schwachen", sagt Vingerhoets. Allzu häufig sollte die Waffe aber nicht zum Einsatz kommen. Denn wenn Männer die Tränen einer Frau als manipulativ empfinden, schlägt Zuwendung in Abwehr um.

Auch mit dem verbreiteten Glauben, dass Weinen entspannt, räumt der Psychologe auf. Weinen sei im Gegenteil eine ziemlich anstrengende Angelegenheit, bei der Herzschlag und Blutdruck rapide ansteigen können. Erleichternd und befreiend wirkt nicht das Weinen selbst, sondern die Anteilnahme einer anderen Person. Sind mehrere Menschen Zeugen des Gefühlsausbruchs, steigt allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Weinende schämt und die Anwesenden verunsichert und hilflos reagieren.

Öffentliche Tränen

In fast allen Kulturen gibt es allerdings Ereignisse, wo das Weinen in der Öffentlichkeit toleriert wird, auch wenn die Unterschiede groß sind. Ein japanischer Topmanager etwa kann mit Verständnis rechnen, wenn er einen Fehler weinend zugibt. In Palästina hingegen ist es selbst bei Beerdigungen verpönt, in der Öffentlichkeit zu weinen. Statt tränenreich zu trauern, klopfen sie hart gegen den Sarg und schießen in die Luft.

In der westlichen Welt ist das Weinen bei Beerdigungen selbstverständlich und wurde früher gar erwartet. Das wiederum konnte zu einem ganz anderen Problem führen, erzählt der britische Neurologe Michael Trimbel im Buch Why humans like to cry ("Warum Menschen gerne weinen"): Denn bei manchen Menschen fließen die Tränen selbst bei größter Verzweiflung nicht. Entsprechend steckten sich Frauen, die ihren Mann zu Grabe trugen und trockene Augen befürchten, vorsorglich Zwiebelstücke ins Taschentuch. (Juliette Irmer, DER STANDARD, 26.6.2013)