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"Vorteile von heute können Nachteile von morgen sein", sagt der Philosoph und Biologe Franz Wuketits.

Die Evolution hat mit dem aufrechten Gang dem Menschen auch erhebliche Risiken beschert: Er kann fallen und sich verletzen. Er neigt zu Rückenschmerzen und abgenutzten Kniegelenken. Hinzu kommen Kreislaufprobleme, Knochenschwund, Kurzsichtigkeit und Allergien - das alles ist nur ein kleiner Auszug an Problemen, von denen der moderne Mensch geplagt wird. 

Ist Homo sapiens eine Fehlkonstruktion? Ganz so ist es nicht. Immerhin gibt es auch Positives zu bemerken: Der aufrechte Gang hat die Feinmotorik der Händen perfektioniert, die anderen Säugetieren verwehrt geblieben ist. Und auch das größere Gehirn ist gewiss nicht von Nachteil. Dennoch kostet dieses eine Menge Energie: Obwohl es nur etwa zwei Prozent des gesamten Körpergewichts ausmacht, verbraucht das Gehirn immerhin rund 20 Prozent der Stoffwechselenergie.

Augentier Mensch

Dass die Entwicklung nicht nur Vorteile mit sich bringt, darf außerdem nicht verwundern. "Die Evolution ist grundsätzlich nichts Perfektes, sondern ein Flickwerk, Vorteile von heute können Nachteile von morgen sein", sagt Franz Wuketits, Philosoph, Biologe und Vorstandsmitglied des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung.

Immerhin lebt der Mensch heute völlig anders. Vorfahren aus der Steinzeit mussten beispielsweise noch viel mehr kauen. Weil die Nahrung im Laufe der Zeit immer mehr zerkleinert und zerkocht wurde, ist der menschliche Kiefer sozusagen "aus der Übung" geraten. Er ist geschrumpft, wodurch die Zähne in Platznot geraten sind. Auch der Geruchssinn ist schlechter geworden: "Wir sind Augentiere, der optische Sinn ist der Wichtigste", sagt Wuketits. 

Veränderungen dauern

Von einer Fehlkonstruktion zu sprechen, wäre entwicklungsbiologisch gesehen jedoch zu kurz gegriffen. Viele Probleme sind auch eine Folge der Zivilisation. Erst in Kombination mit den veränderten Lebensweisen kann von einer "Fehlkonstruktion" die Rede sein: So ist das menschliche Skelett nicht für das hohe Alter programmiert. Rücken, Knie und andere Strukturen machen mit steigendem Alter Probleme. Und eine Anpassung des Körpers an die heutigen Lebensbedingungen erfolgt langsam - Veränderungen dauern, so Wuketits, meist mehrere Millionen Jahre. Vor 2,2 Millionen Jahren etwa hat das Gehirn begonnen, größer zu werden. Und seit 30.000 Jahren hat es sich nicht nennenswert verändert.

Der Körper hinkt also hinterher. Eine Studie unter 2300 Kindern in Indien hat ergeben, dass barfüßige Kinder zu 2,8 Prozent Plattfüße bekamen. Trugen die Kinder Schuhe, hatten sie zu 13,2 Prozent Plattfüße. Schuhe lassen nämlich Muskeln verkümmern, wodurch der Fußrücken nach unten sinkt. Gewiss, ohne Schuhe lässt es sich schwer leben.

Andere Folgen veränderter Lebensweisen ließen sich aber durchaus vermeiden. Etwa der Anstieg des Blutzuckerspiegels oder der Rückgang der Knochendichte aufgrund mangelnder Bewegung. Dabei sind wir, stammesgeschichtlich betrachtet, wahre Athleten: der prähistorische Mensch ist sieben bis zehn Kilometer am Tag gelaufen. Dass der Mensch eigentlich ein geborener Läufer ist, schreibt auch der Evolutionsbiologie Daniel Liebermann von der Harvard University. Schweißdrüsen und nackte Haut ermöglichen es, dass der Mensch über einen längeren Zeitraum laufen kann.

Biologische Prädisposition

Im Hinblick auf Überernährung und Bluthochdruck würde regelmäßige Bewegung dem modernen Menschen ebenfalls nicht schaden. Unsere Vorfahren haben sich noch zu 50 bis 80 Prozent aus Früchten und Gemüse ernährt. Der Anteil an Speisesalz lag zwischen drei und sechs Gramm - in Industriestaaten werden heute im Schnitt zwölf Gramm Salz gegessen.

Auch hier ist die Entwicklung mit den Lebensumständen nicht mitgekommen, der Stoffwechsel ist nach wie vor auf Salzmangel eingestellt, wodurch der Organismus versucht, den Blutdruck aufrechtzuerhalten, damit der Körper nicht dehydriert. Salz und Wasser werden in den Nieren zurückgehalten, die Gefäße verengen sich, das Blutvolumen geht zurück.

Bluthochdruck, Gefäßverkalkungen, Diabetes oder Fettsucht sind nur einige Beispiele für Leiden, die unmittelbar mit der Zivilisation zusammenhängen. Medizinisch werden Symptome behandelt, die durch einen veränderten Lebensstil vermeidbar wären. Liebermann nennt diese Entwicklung "Miss-Evolution".

Evolutionsmedizin

Bis jetzt wurde die biologische Prädisposition für gewisse Leiden in unserer heutigen Gesellschaft außen vor gelassen. "Da besteht dringend Nachholbedarf", sagt Wuketits. Ein neuer Zweig, die Evolutionsmedizin, hat daher das Ziel, Krankheiten im Zusammenhang mit der stammesgeschichtlichen Herkunft zu erfassen und mögliche entwicklungsbiologische Ursachen zu finden.

Letztlich spießt sich eine mögliche Integration der Biologie in den Alltag aber nicht zuletzt an philosophischen Fragen. Die Vorstellung, dass der Mensch nicht unabhängig von der Stammesgeschichte zu betrachten ist und daher bis zu einem gewissen Grad auch biologisch programmiert ist, ist gewöhnungsbedürftig. "Wir haben aber sehr viele archaische Verhaltensweisen, vermeiden etwa oft den Augenkontakt mit Fremden oder setzen uns beispielsweise in einem Hörsaal häufig an den Rand, das ist ein Fluchtinstinkt", sagt Wuketits. 

Biologie nicht ausklammern

Nicht nur der Mensch sei eine "Fehlkonstruktion", im Gegensatz zu anderen Säugetieren käme aber bei uns, so Wuketits, der "Fehler der Zivilisation" dazu. Biologische Grenzen würden nicht akzeptiert, genauso wenig wie psychische: jeder vierte ist psychisch krank, Multitasking sei evolutionsbiologisch eigentlich nicht möglich und Reizüberflutungen überfordern den menschlichen Körper permanent. Wuketits plädiert in seinem Buch "Zivilisation in der Sackgasse - Plädoyer für eine artgerechte Menschenhaltung" für eine Entschleunigung.

"Der Mensch klammert die Evolutionsbiologie in seinem Leben zu sehr aus: nicht er soll sich an die Zivilisation anpassen, sondern die Zivilisation an seine Natur", sagt Wuketits. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 28.6.2013)