Wien - Was war zuerst da: die Idee oder das Ding? Die Frage, worüber sich Erkenntnistheoretiker seit Platons Höhlengleichnis den Kopf zerbrechen, kann auch Nikolaus Gansterer nicht wirklich beantworten. Der 1974 in Klosterneuburg geborene Künstler befasst sich aber mit den Transformationsprozessen, die zwischen der Welt der Gedanken und den materiellen Dingen passieren. Aus der Idee wird eine Zeichnung, aus der Zeichnung ein Körper, aus dem Körper eine Idee. Der Akteur-Netzwerk- Theorie von Bruno Latour folgend, untersucht Gansterer das Wechselspiel, das zwischen Technik und Natur, Umwelt und Denken, letztlich Kunst und Wissenschaft passiert.
Nach fünfjähriger Arbeit lieferte der Künstler 2011 mit dem vielbeachteten Buch Drawing a Hypothesis: Figures of Thought den Versuch, komplexe wissenschaftliche Skizzen und Diagramme künstlerisch zu interpretieren und weiterzudenken. In Zusammenarbeit mit namhaften Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftern schuf Gansterer eine Art Lehrbuch mit 27 bebilderten Hypothesen, die ihm fortan auch als Handlungsanweisungen für Performances, Installationen und Zeichnungen dienten.
Einige dieser Arbeiten sind zurzeit im Kunstraum Niederösterreich in Wien zu sehen. Unter dem Titel When thought becomes matter and matter turns into thought präsentiert Gansterer einen ganzen Kosmos an flüchtigen Gedanken, fantasievollen Skizzen, Material- und Videoinstallationen.
Das Lieblingswerkzeug des akribischen Zeichners, der Bleistift, baumelt, wie von Geisterhand bewegt, in der Luft. Kugeln, Röllchen, Spiegel und bizarre Netzstrukturen arrangiert Gansterer zu dreidimensionalen Gedankenmaschinen, die er mit brüchigen Wortfetzen beschreibt. Von der Linie sei man schnell bei der Schrift, erklärt der Künstler, und generell stehe die Linie sehr stark im Zentrum seiner Arbeit. Im Vergleich zur Fläche sei die Linie etwas vielfach Fragileres und in der Kunst oft unterschätzt. Denkt man aber an mathematische Kurven oder aktuelle Börsenkurse wird deutlich, welche Macht sie versinnbildlichen kann.
Die Faszination für die Linie trifft bei dem Science-Künstler auf ästhetische Merkmale der Wissensvermittlung: Gansterer zeichnet und zeigt (die beiden Wörter sind ethymologisch verwandt) seine Arbeiten überwiegend mit Kreide auf Tafeln. Die losen Kreidepigmente und die Möglichkeit, sie immer wieder auslöschen zu können, stehen symbolisch für die Beweglichkeit und Unbeständigkeit des Gezeigten. Hypothesen eben.
Kein starres Höhlengleichnis
Der alte Konflikt zwischen Verstehen und Erklären, zwischen Rationalismus und Empirismus, bricht in seinem komplexen Werk neu auf. Er zeigt mit beeindruckender Raffinesse, wie interpretierbar und schwammig wissenschaftliche Ergebnisse werden können, wenn man sie aus ihrem traditionellen Kontext löst.
Das statische Modell der Platon'schen Höhle ersetzt Gansterer durch die Philosophie Gilles Deleuze', wonach sich alles gegenseitig beeinflusst und in Bewegung versetzt. Dinge erzeugen Ideen und umgekehrt. Die Synergien von Kunst und Wissenschaft, die vor allem in der Renaissance prägend waren, sind heute allenfalls noch in der Science-Fiction spürbar, welcher der Künstler selbstironisch ein Ausstellungsstück widmet. Dabei könnte, so Gansterer, gerade diese Zusammenarbeit, partiell wiederbelebt, bereichernd wirken.
When thought becomes matter and matter turns into thought ist die real gewordene Akteur-Netzwerk-Theorie. Ohne erklärende Worte läuft man schnell Gefahr, sich im Netzwerk zu verstricken. Damit man Gansterers Arbeit nicht bloß wahrnimmt, sondern auch versteht, kommt letztlich also doch noch das Erklären ins Spiel. Das erledigt der Künstler auch gleich selbst - und führt am kommenden Dienstag, dem 2. Juli, um 17.30 Uhr persönlich durch die Ausstellung. (Stefan Weiss, DER STANDARD, 28.6.2013)
Wohin gehen die Gedanken? Science-Künstler Gansterer ergründet Prozesse zwischen Denken, Handeln und Wahrnehmung. Foto: Weiss