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Wenn Sie Menschen auf Facebook-Entzug setzen, reagieren diese mit Einsamkeit, Depression und Entzugserscheinungen ...

Foto: dpa/Daniel Reinhardt

Als Max geboren wird, ist sein Internet-Ich schon seit Monaten lebendig. Seine Eltern hatten ihm kurz nach der Zeugung ein Facebook-Profil angelegt. Natürlich nur für die "allerengsten 397 Freunde". Die kennen den Neugeborenen bereits von innen und können das frischgeschlüpfte Baby-Ich auf der Entbindungsstation mit einem emphatischen "Wir kennen uns schon von Facebook!" begrüßen.

Ben ist vergangenen Sommer gestorben. Mit 43. Er war zu schnell, die Fahrbahn zu nass. Sein Internet-Ich lebt weiter. Auf Facebook. Als Suchergebnis. In Videos, die er auf seinen Festplatten gespeichert hat. Schweinskram aus dem Sadomaso-Keller. Wenn der in die Hände seiner Kinder fällt, kommt jede Aufklärung zu spät. Ben hat eine Datenspur hinterlassen, aber kein digitales Testament. Sein gemeines Internet-Ich hat ihn überlebt. Maxi hatte ein gemeines Internet-Ich, bevor er selbst entscheiden konnte. Er wird medialisiert aufwachsen vor den Augen von " Freunden", die er sich nicht ausgesucht hat. Und die mehr werden, je putziger seine Eltern sein Heranwachsen auf Facebook inszenieren. Wie wird sich Max' gemeines Internet-Ich sich auf sein Ich auswirken? Wer wird wen überleben?

Jeder Mensch entwickelt ein Internet-Ich, sobald er im Netz, wo nichts privat ist, öffentlich wird. Der normale Mensch hat ein gesundes Internet-Ich, eines, das sich von seinem kritischen Menschenverstand sagen lässt, wie er den Segen der digitalen Möglichkeiten für sich persönlich nutzt. Das gesunde Internet-Ich ist medienkompetent, selbstkritisch und wachsam. Das gemeine Internet-Ich ist das Gegenteil.

Wer ist dieses gemeine Internet-Ich? Was unterscheidet es von einem gesunden Internet-Ich? Wer steuert es? Wer nährt es? Schlägt sein Herz in Kilobyte pro Sekunde? Wer macht, dass es lügt? Wer tötet es? Wo findet es seine letzte Ruhe? Und: Was macht dieses gemeine Internet-Ich den ganzen Tag?

Ein gemeines Internet-Ich muss sich im Viertelstundentakt vergewissern, dass Facebook noch steht. Es googelt seinen nächsten Gedanken, sieht häufiger auf ein Display als in die Augen seines Gegenübers und hält Dauerablenkung für aufmerksam. Es filmt Unfälle und Menschen in Not und veröffentlicht als "Erste Hilfe" ein Posting im Social Web. Es enthemmt die Privatsphäre und publiziert Inhalte, die Hausfrieden und Job kosten können. Das gemeine Internet-Ich lenkt unsere Aufmerksamkeit so lange auf das Banale, bis wir blind sind für das Wesentliche. Es versklavt Freigeister und lässt sie glauben, so frei zu sein wie nie zuvor. Es vernichtet Menschenverstand und Schamgefühl, treibt Kluge und Dumme in blinden Aktionismus. Das gemeine Internet-Ich fotografiert Essen, Sonnenuntergänge, das Flüggewerden der Kinder und verwechselt Bildschirmleben mit Leben. Es ist ständig erreichbar und nirgendwo anwesend. Es verzichtet lieber auf Sex als auf Internetzugang. Es stalkt Expartner online und ist sich sicher, dass sie ihm nichts mehr bedeuten. Das gemeine Internet-Ich sorgt dafür, dass Facebook mehr über uns weiß als unsere Lebenspartner.

Das gemeine Internet-Ich ergreift Besitz von Alten (Expapst Benedikt) und Jungen (Max), von Klugen (Jürgen Domian, Journalist) und nicht so klugen (Michael Wendler, Schlagerstar), von Katzen (Choupette Lagerfeld, Promi-Katze) und Hunden (Boo, Facebook-Hund), von Technikskeptikern (Karl Lagerfeld) und Technikoptimisten (Johannes Ponader, Pirat).

Ist Ihnen aufgefallen, wie oft das Wort "es" in diesem Artikel vorgekommen ist? Das war Absicht. Sie sind internetgeschädigter Querleser? Scannen ist Ihr neues Lesen? Macht nichts: Es kam mehrmals vor. Gut? Das ist wichtig, denn es bringt uns in die Nähe einer ersten Antwort auf die Frage: Wer steuert dieses Internet-Ich? Es ist (wieder mal) das "Es", der unersättliche Triebtäter in uns.

In der Psychoanalyse nach Freud steuert das "Es" unsere Triebe. Der Pädagoge Arthur Brühlmeier vergleicht "Es" treffend mit einem " Hexenkessel: einem Konglomerat von Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Streben ohne Logik, ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Maß, ohne Rücksicht sogar auf die Selbsterhaltung, einzig dem Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung verpflichtet". Unlustvermeidung ist Facebook-Programm. Eine Milliarde Menschen erliegt im Netzwerk Nummer eins dem triebhaften Bekenntniszwang eines schönwetterhörigen "Mein Leben ist eine Reise auf dem Club-Schiff"-Selbst.

Werfen Sie einen Blick auf Facebook, dem Mekka des gemeinen Internet- Ichs. Menschen, dauererregt durch sich selbst. Facebook ist Prozac fürs Freud'sche "Es". Ist das der Grund, warum unser Internet-Ich auf Facebook öffentlich gemein wird, zum Vollidiot mutiert ("Suche Computertisch aus der Barockzeit als Geburtstagsgeschenk für meine Mutter"), sozial inkontinent wird ("Kotzendes Kind, scheiß Montag!") und andere Menschen aus Lust am Trolligsein in Scheißstürme reißt ("Du dummer basdart! Erschieß dich bitte. Du kanns nix." - ein "Fan" auf der Facebook-Seite des Schalke-Torwarts Timo Hildebrand)?

Freiwillige soziale Kontrolle

Facebook fixt unser "Es" mit dem an, was es am liebsten hat: Aufmerksamkeit. Eros und Thanatos liefern wir selbst, freiwillig, scheinprivat und immer so öffentlich, wie das Internet eben ist. Wer steuert dieses Internet-Ich? Wer macht, dass es unseren Menschenverstand und unsere Medienkompetenz außer Kraft setzt und sich um Kopf und Kragen kommuniziert?

Der Medienphilosoph Vilém Flusser würde posthum argumentieren, wir kommunizieren, um unserer Entropie entgegenzuwirken. Das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wichtig ist nicht, was wir kommunizieren, sondern dass wir kommunizieren. Sehen Sie sich einen Facebook-Newsfeed an: Banales Blubb und geistige Umweltverschmutzung dominieren. Die Facebook-Chronik macht nicht nur unsere persönlichsten Daten auf Serverfarmen unsterblich, sie gibt uns auch das Gefühl, dass wir existieren. Auch Google-Suchergebnisse funktionieren als Existenzbeweis unseres vergänglichen kleinen Seins. Das gefällt dem gemeinen Internet- Ich. Danke, Facebook! Danke, Google! Kein Wunder, dass so viele Internet-Ichs verdrängen, dass beide börsennotierte Unternehmen sind, die Profit aus unseren persönlichen Daten schlagen und deshalb vom gesunden Internet-Ich zum gemeinen mutieren.

Google, Facebook und unser Internet-Ich: Existenzversicherung und Ablassbrief in einem. Facebook-Freunde funktionieren zusätzlich als Substitut für den sozialen Kontext traditioneller Familienstrukturen, die mehr medial als real funktionieren. Wenn Sie Menschen auf Facebook- Entzug setzten, reagieren diese mit Einsamkeit, mit Depression und mit Entzugserscheinungen, die laut einer Studie der Universität Chicago schlimmer sind als bei Nikotin- und Alkoholentzug.

Ist unser gemeines Internet-Ich ein Junkie? Ist es verrückt? Facebook ist Stasi auf freiwilliger Basis. Und alle machen mit. Ich auch, falls Sie das beruhigt. Facebook weckt den Triebtäter und befriedigt den Spanner in uns. Die Mehrheit aller Big Brother-Verteufler macht sich heute nackiger auf Facebook als die TV-Narzissten einst vor Livekameras. Zugeben will das niemand. Heute unterwerfen sich mehr als eine Milliarde Menschen freiwillig einer sozialen Kontrolle, die härter richtet als eine sizilianische Dorfgemeinschaft. Das gemeine Internet-Ich ist zu Recht paranoid und exponiert sich immer mehr. Gefallsüchtig und gunstheischend, manisch auf der Suche nach Erlösung, die es auf Facebook nicht gibt.

Das gemeine Internet-Ich sammelt stets Beweise dafür, dass das eigene Leben interessanter und intakter ist als jenes der "Freunde". Sonnenuntergang? Fotografieren, statt erleben! Aufstehen? Erst auf Facebook, dann aufs Klo. Herzbruch? Kryptische Statusmeldungen posten. Gut gelaunt antworten, während Johnny Cash Hurt auf Dauerschleife singt. Das gemeine Internet-Ich ist zwangsneurotisch gut drauf. Mit den restlichen Emotionen kokettiert es, solange es dafür Likes erhält.

Das gemeine Internet-Ich dreht sich primär um sich selbst. Es ist radikal individualistisch, zwanghaft hedonistisch, dauerlustig und superschlau. Like oder shut the fuck up. Mein Ich fühlt sich gut oder tut zumindest so. Ein Teufelskreis? Bis Sie ihn ändern. Wer steuert unser gemeines Internet-Ich? Letzte Antwort: Sie. Ihr gesunder Menschenverstand. Besser, Sie schalten ihn ein. (Anitra Eggler, Album, DER STANDARD, 29./30.6.2013)