Als der junge Ministerprä­sident Lettlands, Valdis Dombrovskis, Mitte Juni die Festrede beim Europaforum Wachau in Göttweig gehalten hat, wussten nur wenige Zuhörer, welch hohen Preis die zwei Millionen Einwohner für den von vielen als Vorbild betrachteten harten Wirtschaftskurs und für die bevorstehende Aufnahme in die Eurozone zahlen mussten. Lettland stand 2008, so wie die zwei Nachbarn Estland und Litauen, am Rande des Staatsbankrotts. Lettland hat in zwei Jahren rund ein Fünftel der Wirtschaftsleistung verloren, ein Drittel der Beamten wurde entlassen, die Gehälter der öffentlich Bediensteten wurden um 40 Prozent gekürzt. Fast zehn Prozent der Bevölkerung, etwa 200.000, sind auf der Suche nach einem besseren Leben ausgewandert.

Im Gegensatz zu Griechenland haben die Letten eine ähnlich dramatische Wirtschafts- und Finanzkrise, wenn auch mit einem 7,5-Milliarden-Euro-Kredit der EU und des Internationalen Währungsfonds, aber vor allem durch die eigene "tour de force" (so kürzlich IWF-Chefin Christine Lagarde) glänzend bewältigt. Trotz der den Bürgern zugemuteten Opfer wurde Premierminister Dom­browskis wiedergewählt. Beim Wirtschaftswachstum liegt Lettland (mit 5,5 Prozent 2012 und einer für 2013 erwarteten Rate von 3,8 Prozent) in der europäischen Spitzengruppe. Eine ähnliche Rosskur hatte bekanntlich Estland bereits zu Anfang 2011 mit der Einführung des Euro gekrönt.

Die wichtigste Lehre für den 36-jährigen lettischen Finanzminister Daniels Pavluts war, dass man nicht zu lange zögern dürfe, das Unvermeid­liche zu beschließen. Die relativ schnelle Überwindung der Krise in den baltischen Staaten bei weitgehender Zurückhaltung der Bevölkerung erklären Premierminister Dombrowskis und Pavluts mit den Erfahrungen der Bevölkerung unter den 50 Jahren sowjetischer Herrschaft.

Zugleich ist das Verhalten der politischen Klasse nicht nur in Lettland mit ihrer Absicht zu erklären, dass die baltischen Staaten – mit den Worten von Dombrowskis - "zum Westen gehören und nicht in eine politische Grauzone zwischen Russland und der EU". Litauen hat am 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernommen und will 2015 auch den Euro einführen. Selbst der sozialdemokratische Ministerpräsident Algirdas Butkevičius betonte kürzlich, dass er der Politik von Kanzlerin Angela Merkel zustimme. "Wirtschaftsförderung heißt zuallererst sparen (...). Diejenigen, die sagen, Deutschland verhalte sich nicht solidarisch oder schlecht, halten es wahrscheinlich für richtig, dass das, was von Menschen in einem Land erarbeitet worden ist, wieder denen in einem anderen abgegeben werden soll. Aber diese Zeit ist vorbei."

Die EU- und Euro-freundliche Haltung der politischen Eliten in diesen drei baltischen Staaten, vor allem in Lettland, muss auch vor dem Unsicherheitsfaktor der relativ großen russischen und anderen Minderheiten betrachtet werden. Die Letten machen nur 62 Prozent, die Esten 70 Prozent und die Litauer 84 Prozent der jeweiligen Bevölkerungen aus. Zugleich bedeutet die Kombination von Putins aggressiv antiwestlicher Politik und dem hohen Anteil russischer Einlagen auf den Konten der lettischer Banken ein gewisses Risiko, nicht nur für die Finanzstabilität. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 9.7.2013)