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Der Radrennfahrer auf kleinstem Raum - mit aerodynamischem Helm, mit seinen Stampfhebeln zwischen Oberschenkel und Pedal -, der andere, indem er den Raum der Stadt gemächlich ausschreitend als Flaneur durchstreift.

Und beide hängen engstens mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammen: Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurden menschliche Bewegungen, Aktivitäten und Handgriffe von Ökonomen und Anatomen auf Zeitgewinn hin berechnet; daher auch die Redewendung "Zeit ist Geld". Genau gegen diese gnadenlose Umrechnung des Körpers in Fabrikbewegungen protestierten die großen Dandys und Müßiggänger: Um 1830 wurde es im auch verkehrstechnisch beschleunigten Paris Mode, auf den belebtesten Straßen mit einer Schildkröte spazieren zu gehen.

Leider zeigen die Übertragungen von der "Tour de France" zwar oft Flora und Kultur, aber keine Schildkröten. Auch keine Schlange war bei den Pyrenäenübertragungen zu sehen, kein Igel vor den Fahrradschläuchen. Nur von zwei Wespenstichen, die einem Rennfahrer zusetzten, war einmal die Rede. Die Natur, durch welche der Tross rast, soll möglichst aseptisch sein, soll Fleiß und Industrie nicht stören.

Am besten überhaupt nur Windkanal. Deshalb sind die Strecken, die für das Einzelzeitfahren ausgewählt werden, im Fernsehen auch die langweiligsten. Es geht hier nur darum, dass der Rennfahrer, völlig auf sich allein gestellt, einen Raum von etwa 50 Kilometern so schnell wie möglich überwindet. Das traut man ihm eigentlich nicht zu. Deshalb davor Tests im Windkanal.

Das ZDF zeigte etwa das "Team Telekom" (Winokurow) in den Audi-Werken: Es geht darum, dass der Fahrer mit seiner Maschine möglichst verschmilzt, dass der Traum der frühen französischen Aufklärung, derjenige des "L'homme machine", sich erfüllt: Helm, Anzüge (ein Hermes Phettberg wäre über deren Enge entzückt), Sitzhaltung. Alles kann noch einmal Sekunden bringen, bei Rekorddurchschnitten von 54 km/h. Und wozu?

Um die Zeit zu zerschmettern. In William Faulkners Schall und Wahn zerschlägt der Held die Uhr, alle Unterschiede zwischen tiefster Vergangenheit und Gegenwart heben sich auf. Macht ein Lance Armstrong, der in einer Minute 115 Umdrehungen kurbelt, nicht auch dies: die Zeit zertreten? Wo keine Zeit mehr ist, da ist auch kein Tod. Und so richten sich diese Tritte auch gegen John Donnes Todesmahnung des "For Whom the Bell Tolls": den Ablauf der Lebensuhr aufhalten, indem man die Uhr einfach zertritt - oder versucht, in einer Minute immer mehr Einheiten unterzubringen.

Ein anderer Wert noch: Wer sich nicht für klassisches Ballett - die unnatürlichste Art, sich zu bewegen - begeistert, dem- und primär derjenigen sei die heutige Übertragung des Zeitfahrens angeraten: Selten sieht man männliche Oberschenkel in solcher Pracht, und das eine Stunde lang. (Richard Reichensperger , DER STANDARD Printausgabe, 26./27.7.2003)