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"Das derzeitige russische System funktioniert nur als Machtvertikale": Wladimir Putin.

Foto: REUTERS/Michael Klimentyev/RIA Novosti/Kremlin

STANDARD: Am russischen Nationalfeiertag, dem 12. Juni, sind in Moskau wieder Zehntausende auf die Straße gegangen, um gegen Putin und die Prozesse gegen Aktivisten der Oppositionsbewegung zu demonstrieren. Hat sich die Protestkultur in Russland etabliert?

Gabowitsch: In Russland wie in vielen anderen autoritären Staaten besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Oppositions- und Protestbewegung. Die politische Opposition ist nicht neu, hat aber nie sehr viel erreichen können. Auch protestiert wird in Russland nicht erst seit Dezember 2011, vorher ging es aber vor allem um konkrete Alltagsprobleme wie verdichtete Bebauung, Umweltzerstörung und Lohnrückstände, obwohl es auf regionaler Ebene auch größere politische Protestbewegungen gab. Neu ist, dass sich viele der Proteste inzwischen offen gegen den Präsidenten und die politische Führung richten. Darum geht es der massiven Protestbewegung, die mit der traditionellen Opposition wenig zu tun hat. Das gilt auch für viele derjenigen, die jetzt wegen ihrer Teilnahme am Protestmarsch vom 6. Mai 2012 vor Gericht stehen.

STANDARD: Was sind die Spezifika dieser neuen Bewegung?

Gabowitsch: Die Distanz zur organisierten Opposition und den neuen Protest gegen das Gesamtsystem habe ich schon angesprochen. Dann ist da die enorme Pluralität der Bewegung. Gemeinsam ist den meisten Protestierenden allenfalls das hohe Bildungsniveau, sie gehören aber keinesfalls mehrheitlich zu einer "Mittelschicht", wie auch immer definiert. Darunter sind Angestellte, Studierende, Künstlerinnen, Taxifahrer und Köche; Wahlbeobachterinnen, Antikorruptionsaktivisten und Freihandelsgegner, Bürgerrechtlerinnen, Gewerkschaftler und Rassisten. Neu ist, dass alle diese Menschen zunehmend in einem gemeinsamen Raum aufeinandertreffen. Neu ist auch die landesweite Vernetzung der Bewegung, ermöglicht durch das Internet. Dennoch gibt es sehr unterschiedliche Anliegen und vor allem regionale Unterschiede. Die gemeinsamen Nenner sind vor allem der Einsatz für faire Wahlen und gegen Korruption.

STANDARD: Bedeutet dies langfristig auch das Aus der klassischen Opposition, oder wird sie sich den neuen Protestformen anpassen?

Gabowitsch: Dazu müsste die Protestbewegung selbst genug Druck aufbauen können, um der Opposition Bedingungen für ihre Unterstützung zu stellen - ähnlich wie Otpor in Serbien im Jahr 2000. Dafür mangelt es ihr an Entschlossenheit, Selbstständigkeit und Organisation.

STANDARD: Es wird häufig behauptet, dass die neuen Protestaktivisten nicht so ganz wüssten, wohin sie politisch überhaupt wollen - dass die Bewegung sehr heterogen sei. Geht es hier nicht eher um die Etablierung einer neuen russischen Bürgerkultur?

Gabowitsch: Die Heterogenität ist sowohl die Stärke als auch die große Schwäche der Bewegung. Es geht aber vielen zunächst gar nicht so sehr um konkrete politische Forderungen, sondern einfach um die Schaffung eines öffentlichen Raums zur Überwindung der extremen gesellschaftlichen Vereinzelung. Die Menschen kommen zusammen, um zu sagen: Ich existiere, ich bin hier, ich habe Rechte, Interessen und eine Menschenwürde und fühle mich durch das System nicht repräsentiert. Darin ähnelt der Protest in Russland Bewegungen in vielen anderen Ländern - zuletzt Brasilien. Die Bedeutung dieser neuen Öffentlichkeit darf nicht unterschätzt werden: Sie schafft neue Bindungen und ist langfristig wichtiger als jeder Regierungswechsel.

STANDARD: Putin scheint nur eine Antwort auf diese neue Protestkultur zu haben: Repressionen. Ist es überhaupt denkbar, dass er sich irgendwann doch auf einen Dialog mit der Protestbewegung einlässt?

Gabowitsch: Die Protestbewegung spricht nicht mit einer Stimme, deshalb kann es auch keinen solchen Dialog geben. Aber bereits Ihre Frage spiegelt die Logik des Systems, das ständig Gespräche zwischen dem Herrscher und einem undifferenzierten "Volk" inszeniert. Es geht aber nicht um Dialog und einzelne Zugeständnisse, sondern um Rechenschaftspflicht, eine unabhängige Justiz und faire Wahlen. Putin und andere in der politischen Elite würden nicht jede Wahl verlieren, doch das derzeitige System funktioniert eben nur als Machtvertikale. Auf Pluralisierung und Popularitätsverlust kann es nur mit Repressionen reagieren, auch um Mitglieder der Elite am Ausscheren zu hindern.

STANDARD: Im Westen sagt man häufig: Russland, wie übrigens auch die Türkei, braucht halt so eine "starke Hand". Dahinter steckt häufig die Mutmaßung, dass die Russen der Demokratie unfähig seien. Was würden Sie entgegnen?

Gabowitsch: Wer so denkt, ob in Österreich, in Russland oder in der Türkei, ist selbst unfähig zu demokratischem Handeln und steckt zudem in einer paternalistischen Denkweise mit rassistischen Zügen. Die "starke Hand" bedeutet im Klartext, dass demokratische Institutionen gewaltsam zerstört oder am Entstehen gehindert werden. Die vermeintliche Unreife ist keine ethnische Besonderheit, sondern Ergebnis gezielter Repressionen im Interesse einer politischen Elite. Demokratische Reife wird durch Institutionen der Demokratie erzeugt, nicht andersrum.

STANDARD: Kommen wir zu den Protesten in der Türkei. Auch dort scheint unter dem wirtschaftlichen Erfolg der Regierung Erdogan eine neue Mittelklasse herangewachsen zu sein, die ein größeres Mitspracherecht einfordert. Inwieweit ähnelt diese der Bewegung in Russland und wo unterscheidet sie sich?

Gabowitsch: Dieses Bild ist für Russland eindeutig falsch: Weder lässt sich das Klischee von einem Protest der "Mittelklasse" belegen, noch ist der wirtschaftliche Aufschwung Putin zuzuschreiben.

STANDARD: Putin ist nicht für den wirtschaftlichen Aufschwung der Nullerjahre verantwortlich?

Gabowitsch: Das wäre mindestens ebenso kurzsichtig wie die Vorstellung von Putin als Wurzel allen Übels in Russland. Der Anstieg der Rohstoffpreise ist weder sein Verdienst, noch fällt er genau mit seiner Amtszeit zusammen. Es gibt durchaus Verbesserungen einzelner wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, etwa bei den Handelsgerichten, insgesamt befeuert der vertikale Aufbau des Systems aber Ungleichheit und Korruption, die den Aufschwung eher bremsen und das enorme Einkommensgefälle verstärken.

STANDARD: Aber wir waren bei der Türkei ...

Gabowitsch: Auch für die Türkei greift das Bild zu kurz, denn dort gehören gerade religiös-konservative Unterstützer der AKP zu den Profiteuren des Aufschwungs. Allerdings bestehen in der Türkei viel stärkere gesellschaftliche Bindungen oberhalb familiärer Netzwerke und kleiner Freundeskreise. Es gibt über Generationen gewachsene politische Loyalitäten und vor allem ein säkulares städtisches Milieu, das gut vernetzt ist und leichter mobilisiert werden kann. Neu ist wohl eher, dass Menschen verschiedener politischer Ausrichtung, aber auch bislang Apolitische trotz enormer Differenzen gemeinsam gegen die AKP auf die Straße gehen.

STANDARD: Bei den russischen Protesten hat auch eine sehr heterogene Masse zusammengefunden.

Gabowitsch: Ja. Es gibt aber auch andere Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen bündeln sich die verschiedensten Anliegen nach Jahren lokaler Proteste in einer landesweiten Bewegung. Und auch die Ausdrucksformen sind sehr ähnlich: zum Beispiel die individualisierten Protestplakate, die Äußerungen des starken Mannes verspotten. Schließlich dient in beiden Ländern das Internet als Alternative zum Fernsehen, das die Massenproteste kaum beachtet.

STANDARD: Wenn man Sie so hört, hat man den Eindruck, dass wir im Westen unseren Blick auf Demokratisierungsprozesse verändern müssen. Man sollte also nicht den kurzfristigen Regierungswechsel in den Fokus nehmen, sondern Entwicklungen des Umdenkens, die durch solche neuen Protestbewegungen vorangetrieben werden können.

Gabowitsch: Der Westen hat kein Monopol auf Klischees, Vorurteile und Vereinfachungen, ebenso wenig wie auf Verzerrung durch die Medien. All dies existiert nur, weil es auch in den betroffenen Ländern selbst existiert. Ich würde es so sagen: Nachhaltiger politischer Wandel ohne einen Wandel der Gesellschaft gelingt fast nie. Gesellschaftliche Veränderungen sind aber weder Selbstläufer noch automatisch progressiv: Man denke nur an die wiedererstarkte Homophobie in Russland. Was am Ende zählt, ist der Wandel gesellschaftlicher Institutionen, von der Familie bis hin zum Parteiensystem. (Ingo Petz, DER STANDARD, 13./14.7.2013)