Laut dem australischen Migrationsforscher Stephen Castles migrieren immer mehr Einwanderer mehrfach.

Foto: Matthias Cremer

Die Vorstellung einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft sei dumm, ja gefährlich: mit diesem Slogan gehen seit nunmehr mehreren Jahrzehnten EinwanderungsskeptikerInnen hausieren. Denn MigrantInnen brächten ihre eigenen Sitten, ihre eigenen kulturellen Vorstellungen mit, die sich von den Sitten und Vorstellungen der vorgefundenen Mehrheitsgesellschaft unterschieden. Das führe zu Konflikten, die die scheinbaren multikulturellen Vorteile - mehr Diversität, und sei es nur beim gastronomischen Angebot - bei Weitem überwiegen würden.

Beweise vollzogener Integration

Das gelte insbesondere, wenn Sitten und Kultur der Newcomer mit den Werten der Moderne in Konflikt stünden. Also mit "Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechten und Zivilgesellschaft", um mit dem deutschen Politologen Bassam Tibi die Grundfesten einer "europäischen Leitkultur" zu zitieren. Weit profaner, machen "Multikulti"-GegnerInnen das Problem etwa in Gestalt migrantischer Patriarchen aus, die ihren Frauen jede Selbstständigkeit verbieten - und abschätzig auf die "freizügigen" Einheimischen herabblicken.

Daher gelte es, von MigrantInnen als Gegenleistung für Aufenthaltsbewilligung und Einbürgerung Beweise vollzogener Integration zu verlangen. Etwa Deutschkenntnisse und eine Prüfung in Staatsbürgerschaftskunde wie in Österreich: Nur so, wenn überhaupt, könne gewährleistet werden, dass ein/e MigrantIn wirklich im Einwanderungsland angekommen sei. Dass er oder sie sich einfüge und herpasse.

Klassische Migration

So läuft die Diskussion seit Jahren. Es ist eine Diskussion über das Wechseln von einer Gesellschaft in die andere: über Migrantion als bipolare Bewegung. Hier die Herkunfts-, da die Ankunftskultur, dazwischen die Menschen, die vom einen ins andere wachsen, das eine ins andere mitbringen. Doch was, wenn dieses klassische, im Europa der vergangenen Jahrzehnte widerwillig akzeptierte Bild von Migration tendenziell gar nicht mehr zutrifft? Wenn die "Multikulti"-Diskussion zunehmend überholt ist?

Dass dem teilweise tatsächlich so sein könnte, führte vor ein paar Tagen in Wien der Soziologe Stephen Castles aus. Auf Einladung des Soziologischen Instituts der Universität Wien und vom STANDARD mitorganisiert hielt er die Key Note Speech bei der heurigen Marie Jahoda Summer School.

Castles ist ein australischer Migrationsforscher, der weltweit als einer der fünf Top-ExpertInnen auf diesem Gebiet gilt. Als Berater der Vereinten Nationen und der Europäischen Union hat er Einblick in die aktuellsten internationalen Datensätze: Immer mehr MigrantInnen beschränken sich nicht darauf, in ihrem Leben einmal von einem Land in ein anderes, von einer Kultur in die andere zu wechseln, sagt er.

Neuer Trend

Statt dessen migrierten sie mehrfach, Jobs und Auskommen nach, die in dem unter neoliberalen Bedingungen sich ausbildenden "globalen Arbeitsmarkt" immer schwerer zu fassen seien. Ein Lebensabschnitt hier, ein Lebensabschnitt dort, Konfrontation mit mehreren, unterschiedlichen Kulturen: eine grenzüberschreitende Existenz als WanderarbeiterInnen der Moderne, die für jene, die sie führen, als Schattenseite wohl auch mehrfache Entwurzelung hat.

Castles sprach von einem Trend. Konkrete Zahlen nannte er nicht. Fest aber stehe, dass Multikulturalismus angesichts einer solchen strukturellen Änderung nicht mehr weiter helfe. Vielmehr gehe es nunmehr um Überlegungen, wie mit transnationaler Migration umgegangen werden solle.

Diese nämlich zeitige Folgen für die betroffenen Gesellschaften, denn transnationale MigrantInnen würden von langfristig angelegten Integrationsprogrammen nur wenig profitieren.

Neue Modelle migrantischer Partizipation

Statt dessen gelte es, kurzfristiger zu denken, an neue Modelle migrantischer Partizipation. An Modelle, die fixes Aufenthalts- und Wahlrecht nicht als hehres Zukunftsziel handeln, sondern als Notwendigkeit, um EinwanderInnen schon nach wenigen Jahren an die neue Gesellschaft und Kultur zu binden.

Damit müsste aber auch das erklärte Ziel, MigrantInnen in eine "Leitkultur" einzufügen, neu diskutiert werden. Und: trifft das, was Castles ausführt, zu, so schaut Österreich mit seinen strengen Aufenthalts- und Staatsbürgerschaftsbestimmungen mittelfristig ziemlich alt aus. (Irene Brickner, derStandard.at, 13.7.2013)