Rund 270.000 Soldaten und ein deutlich aufgestocktes Militärbudget von 38,7 Milliarden Euro für die Jahre 2013 und 2014 sollen Japan vor Angriffen von außen schützen. Geht es nach Premierminister Shinzo Abe, sollen diese Mittel in Zukunft nicht nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden, sondern auch für präventive Militärschläge. Fährt seine konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) bei der Oberhaus-Wahl am Sonntag einen hohen Sieg ein, kann Abe die pazifistisch geprägte Verfassung ändern. Die wurde 1946 unter starkem Einfluss der USA formuliert. Und ist den konservativen Kräften im Land seit jeher ein Dorn im Auge.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgte das japanische Kaiserreich eine aggressive Expansionspolitik und verleibte sich unter anderem Korea, Thailand, Indonesien, die Philippinen und Teile Chinas sowie Indiens ein. An der Seite von Hitlers nationalsozialistischem Deutschland und Mussolinis faschistischem Italien bestritt Kaiser Hirohito in den 1940er Jahren den Zweiten Weltkrieg. Gemeinsam sollte die Ausdehnung des jeweiligen Reiches erleichtert werden.

Mit den zwei abgeworfenen US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945, der darauffolgenden Kapitulation des japanischen Kaisers und der Besatzung Japans durch die USA wurde die Zeit des japanischen Imperialismus beendet. Um eine Wiederholung dieser Politik zu vermeiden, wurden im Japan der Nachkriegszeit unter Leitung von US-General Douglas MacArthur Demokratisierungs- und Entmilitarisierungsmaßnahmen eingeleitet. MacArthur, für die Besatzungstruppen in Japan verantwortlich, erarbeitete dabei gemeinsam mit einer japanischen Übergangsregierung eine neue Verfassung, die stark pazifistische Züge trug. Dadurch sollte auch die mittelfristige Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft erleichtert werden.

Am deutlichsten drückt sich der Pazifismus in Japans Verfassung in Artikel 9 aus:

(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.

(2) Um das im vorangehenden Absatz bezeichnete Ziel zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder andere Mittel zur Kriegsführung unterhalten. Ein Recht des Staates auf Kriegsführung wird nicht anerkannt.

Der Urheber dieses Artikels gilt als umstritten. MacArthur gab vor dem US-Kongress zu Protokoll, dass es die Idee des damaligen japanischen Ministerpräsidenten Shidehara Kijuro gewesen sei, diesen Passus in die Verfassung aufzunehmen. Shideharas Sekretär zufolge war es hingegen MacArthur, der auf den Anti-Kriegs-Paragrafen gedrängt hatte. Für Historiker besitzt letztere Version weit mehr Glaubwürdigkeit. Gesetzt den Fall, dass es sich tatsächlich so abgespielt hat, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass gerade die USA diesen Artikel in der Folgezeit sukzessive ausgehöhlt haben.

Nach dem Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 wurden die bislang in Japan stationierten US-Kräfte nach Korea verlegt. Um ein Sicherheitsvakuum in Japan zu verhindern, wurde auf MacArthurs Initiative eine als "Polizeireserve" bezeichnete Truppe aufgestellt. Anfangs gerade einmal 75.000 Mann stark, wuchs sie bis 1954 zu den bis heute tätigen Self-Defense Forces (SDF) von 179.000 Mann an.

In der Zwischenzeit, 1952, unterzeichneten beide Länder einen Sicherheitsvertrag, der US-Hilfen festschrieb, um die Selbstverteidigung des Landes zu gewährleisten. Im gleichen Jahr endete durch den Friedensvertrag von San Francisco die Besatzung Japans. 1960 kam es zu einem neuen Sicherheitsabkommen zwischen Tokio und Washington. Dieses sah vor, dass beide Länder über militärische Kapazitäten verfügen sollen, um einem Angriff gemeinsam standhalten zu können. Zudem wurde den USA die Stationierung von Streitkräften in Japan erlaubt.

Legitimierte Selbstverteidigung

Ob die Abkommen mit den USA inklusive Aufbau eines japanischen Heeres – auch wenn es offiziell nur der Selbstverteidigung dient – mit Artikel 9 der Verfassung im Einklang stehen, darüber herrschte Uneinigkeit bei japanischen Juristen. Diverse Prozesse wurden geführt, die unterschiedliche Ergebnisse brachten. Bereits 1959 entschied der Oberste Gerichtshof in einem Grundsatzurteil, dass Japan das Recht besitze, sein Territorium zu verteidigen und dafür entsprechende Kapazitäten zu unterhalten. Die SDF wurden somit legitimiert.

Das Urteil sorgte aber keinesfalls dafür, dass die Diskussionen über die Verfassung und den starken Einfluss der USA zurückgingen. Ganz im Gegenteil, gerade vor dem 1960 unterzeichneten Sicherheitsabkommen kam es in Japan zu umfangreichen Protesten. Die linke Opposition, Studenten und Gewerkschaften liefen dagegen Sturm, sie verhinderten sogar einen geplanten Besuch von US-Präsident Dwight D. Eisenhower. Die japanischen Linken forderten statt des neuen Abkommens eine vollkommene Unabhängigkeit von den USA, eine vollständige Umsetzung der pazifistischen Verfassung und Nichtangriffspakte mit den benachbarten Staaten in Ostasien.

Auch die regierenden konservativen Kräfte Japans sehnten sich nach mehr Unabhängigkeit von den USA. Gleichzeitig wollten sie ihr Land aber auch verteidigt wissen. Die Konservativen begnügten sich daher mit einer Partnerschaft mit den USA, da eine Verfassungsänderung gerade in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vor unüberwindbaren Hürden stand. Schließlich ist dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament und eine einfache Mehrheit bei einer Volksabstimmung nötig.

Beliebte "Friedensverfassung"

Sowohl die eine als auch die andere Voraussetzung war lange Zeit nicht in Reichweite. Die Verfassung war und ist beim japanischen Volk sehr beliebt, nicht ohne Grund wird sie gerne als "Friedensverfassung" bezeichnet. Und über die notwendige Mehrheit im Parlament verfügen die Konservativen bis heute nicht. Das kann sich aber ab dem kommenden Sonntag ändern.

Die konservative LDP von Premier Shinzo Abe kann bei einem hohen Sieg in der Oberhaus-Wahl die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erlangen. Und was die Volksabstimmung betrifft, hat sich seit Anfang der 1990er Jahre langsam der Wind gedreht. Ausschlaggebend dafür sind die durchgeführten Raketentests Nordkoreas, in denen Japan eine unmittelbare Bedrohung sieht. Dadurch wurde auch eine neue, bis heute andauernde Debatte über die militärische Selbstbeschränkung durch die Verfassung angestoßen. Weiteren Diskussionsstoff brachte 2004 der Eintritt Japans in den Irak-Krieg. Um Artikel 9 der Verfassung zu umgehen, wurde der Zustand im Irak als "Frieden" definiert und dem Einsatz ein humanitärer Charakter zugeschrieben.

Nun, in der Gegenwart, sorgt der Inselstreit mit China für Unbehagen. Und Abe, seit Dezember 2012 zum zweiten Mal Premierminister, hat direkt nach seinem Amtsantritt nachdrücklich Anspruch auf die umstrittenen Inseln erhoben. Bereits im Wahlkampf versprach Abe, der aufgrund seiner harten außenpolitschen Haltung "Prinz der Falken" genannt wird, die SDF in eine "bewaffnete Streitmacht" umzuwandeln. So will der Regierungschef für Japan jene internationale Bedeutung erlangen, die es seiner Meinung nach verdient. Was das bedeutet, beschrieb Abe in seinem Buch "Ein schönes Land", das 2006 erschien. Stolz soll es sein, mächtig und nationalistisch.

Eine pazifistische Verfassung hat in Abes Vision seines Heimatlandes keinen Platz. Und durch die außenpolitischen Streitigkeiten mit China und die Bedrohung durch Nordkorea ist auch die Bevölkerung zum Teil auf seinen Kurs eingeschwenkt. In aktuellen Umfragen sprechen sich knapp mehr oder knapp weniger als 50 Prozent für eine Verfassungsänderung aus. Die einst unüberwindbare Hürde scheint nun überwindbar.

Trotzdem geht Abe auf Nummer sicher und propagiert im aktuellen Wahlkampf keine Änderung des brisanten Artikels 9, sondern von Artikel 96. Jenem Artikel, der genau die beiden Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung vorschreibt. Geht es nach Abe, soll in Zukunft eine einfache Mehrheit im Parlament dafür ausreichen. Und dann hätte Abe freie Bahn, um sein "schönes Land" zu verwirklichen. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 17.7.2013)