Zwischen strenger Kontrolle und dem Gebot, ganz entspannt loszulassen: die Schwangerschaft.

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Das Ideal des schlanken und perfekt geformten Körpers ist unerbittlich. Es grenzt Menschen aus, macht Kinder zum Gespött Gleichaltriger - und es gewährt keine Zufluchtsstätte. Längst hat die Diätdoktrin auch die Schwangerschaft erreicht; diese biologisch legitimierte Verschnaufpause der Frauen im Schlankheitsdiktat.

Dass sie vor der Schwangerschaft und danach flugs wieder rank und schlank sein soll, das hat frau längst intus. Gelingt schließlich jeder zweiten prominenten Mutter in Mindestzeit. Sich innerhalb weniger Wochen oder gar Tage wieder ins Idealgewicht zu trimmen ist heute quasi Teil der Schwangerschaft. Neu ist die Dimension der Angst vor der Gewichtszunahme in den neun Monaten. Zuletzt schlugen US-amerikanische Kinderärzte Alarm, weil viele Schwangere nicht mehr genug zunehmen und ihre Neugeborenen dadurch mit zu wenig Gewicht auf die Welt kommen.

Doch die "schlanken Schwangeren", die lediglich einen gewölbten Bauch, aber sonst kein Gramm Fett anlegen, gibt es nicht erst seit gestern. 1990 erhob Christopher Fairburn von der Uni Oxford, dass 40 Prozent der schwangeren Frauen Angst vor der Gewichtszunahme haben. Und zehn Jahre später konnte Alice Carter von der Universität Massachusetts zeigen, dass jede dritte Frau fürchtet, nach einer Schwangerschaft ihr Ausgangsgewicht nicht mehr zu erreichen.

Anpassung an die Köpernorm

Inge Frech ist Gynäkologin und Psychotherapeutin in Wien. Sie kennt werdende Mütter mit Essstörungen. Sie sagt, dass es Essstörungen auch früher gegeben hat - aber die Ausprägung der Krankheit habe sich verändert. Früher stand die Magersucht vor allem für die Weigerung junger Mädchen, erwachsen zu werden, den weiblichen Körper anzunehmen. "Heute geht es eher um die Anpassung an eine durch die Werbung vorgeschriebene Körpernorm", sagt Frech. Es geht um das Schlanksein - und um die Macht über den eigenen Körper.

Nach dem Kind kommt die Diät

Für viele Frauen beginnt mit der Schwangerschaft eine regelrechte "Diät-Karriere": Etwa jede Zweite, die vor der Schwangerschaft noch nie abgenommen hat, tut es danach. Weil das heute so schnell gehen muss, sind die Methoden oft fragwürdig und nicht nachhaltig; die Spirale aus Diät, Jojo-Effekt und abermals Diät beginnt sich zu drehen.

So kann die Schwangerschaft ein problematisches Ess- und Abnehmverhalten auslösen. Sie kann aber auch eine zuvor bestehende Essstörung aktivieren oder verstärken. Besonders Schwangere, die einmal an einer Essstörung litten, hadern mit dem Dickerwerden. Dazu kommt, dass schlanke Frauen am Beginn einer Schwangerschaft oft überdurchschnittlich viel zunehmen.

Wie viele Frauen in der Schwangerschaft eine wieder aufflammende oder neue Essstörung entwickeln, ist schwer zu sagen. Die Daten werden in Österreich nicht zentral erfasst. Vielen Gynäkologinnen, Gynäkologen und Hebammen fehlt das Bewusstsein für das Problem. Es kommt also nur dann zur Sprache, wenn die betroffenen Frauen es zum Thema machen. Das tun viele erst, wenn sie beunruhigende Dinge über mögliche Folgen für das Kind lesen. Der Mutter-Kind-Pass klammert die Psychosomatik weitgehend aus.

"Die Dunkelziffer der Betroffenen ist sehr hoch", sagt Eva Thurner. Auch sie ist Gynäkologin und Ärztin für psychotherapeutische Medizin. "Die Frauen sind allein mit ihrem Problem und teilen es oft nicht einmal mit ihrer direkten Umgebung." Vor allem Bulimie lasse sich gut verheimlichen, weil die Frauen oft normalgewichtig sind. Vielen Betroffenen fehlt zudem die Krankheitseinsicht - sie verdrängen die Essstörung oder nehmen sie nicht als Problem wahr.

"Auf jeden Fall ernst nehmen"

In einer Essstörung drückt sich der Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper, sein Gewicht und seine Form aus. Genau diese Kontrolle schwindet in der Schwangerschaft. Das Unkontrollierbare ist gewissermaßen integraler Bestandteil des Mutterwerdens. Das setzt vor allem Frauen zu, die jede noch so kleine Gewichtsschwankung ihres Körpers mit Argusaugen beobachten.

Inge Frech weiß aus der Praxis, dass schon eine geringe Gewichtszunahme am Beginn der Schwangerschaft manche Schwangere massiv verunsichert. "Die Frauen haben große Angst, dick zu werden und ihre Autonomie zu verlieren." Einige beginnen deshalb während der Schwangerschaft eine Diät oder beginnen, intensiv Sport zu betreiben. Essgestörte Frauen, die ungewollt schwanger wurden, verunsichert die Gewichtszunahme oft besonders, erzählt die Ärztin. Und nach der Geburt, also in einer Phase, die auch für psychisch gesunde Frauen sehr belastend sein kann, werde die Essstörung oft schlimmer.

Woran Eva Thurner erkennt, dass eine Schwangere eine Essstörung haben könnte? "Ein mögliches Zeichen ist verstärkte Schwangerschaftsübelkeit mit Erbrechen und Gewichtsabnahme. Dies kann zu bedrohlichen Zuständen führen und muss in jedem Fall ernst genommen werden."

Genau wie Mangelernährung während der Schwangerschaft kann auch zu viel Nahrung Mutter und Kind schaden: Eine ungezügelte Gewichtszunahme während der neun Monate kann negative Folgen wie Schwangerschaftsdiabetes haben. Doch es gibt einen Punkt, an dem die Kontrolle über die Ernährung krankhaft wird.

Alles unter Kontrolle?

Werdende Mütter sind heute mit einer Doppelbotschaft konfrontiert: So gilt es einerseits, die Schwangerschaft möglichst engmaschig medizinisch kontrollieren zu lassen. Zugleich soll frau loslassen, ihrem Körper vertrauen, ihn spüren und kennenlernen, die Schwangerschaft gar genießen. Diese Botschaften empfinden viele als widersprüchlich. Für Frauen, denen Kontrolle Sicherheit gibt, sind sie eine Herausforderung.

Längst hat sich um die Schwangerschaft eine florierende Industrie entwickelt, die ihr den Anschein verleiht, es handle sich um eine komplexe Novität in der Menschheitsgeschichte, die Frauen nur mit allerhand Beratungsbrimborium, Alternativmedizin und stapelweise Ratgeberliteratur bewältigen können.

"Man schreibt den Frauen heute vor, wie sie in der Schwangerschaft zu leben haben", sagt Eva Thurner. Das verunsichere viele. In ihrer Praxis stellt sie schwangere Frauen deshalb nicht ständig auf die Waage. Und: "Ich frage nach, wenn ich den Eindruck habe, dass etwas nicht stimmt."

Viel Angst, viel Druck

Inge Frech sagt, dass es für Frauen heute schwieriger sei, einen subjektiven, lustvollen Zugang zum eigenen Körper zu finden. Auf der anderen Seite gebe es Ärztinnen und Ärzte, die mehr denn je aufklären und kontrollieren müssen. "Wir leben in einer Gesellschaft mit viel Angst. Man muss eine perfekte Schwangerschaft, eine perfekte Geburt, ein perfektes Kind haben. Das erzeugt großen Druck." (Lisa Mayr, derStandard.at, 5.8.2013)