"Seduce Me" ist zu explizit für Steam.

Foto: Screenshot/Seduce Me

"In a Permanent Save State" ist zu politisch für Apple.

Foto: Screenshot/In a Permanent Save State

Die Zukunft liegt in digitalen Märkten. Kein Spielemacher muss heute noch um enge Regalplätze kämpfen, sich für Publisher verbiegen oder Bäume fällen, um Pappschachteln herzustellen. Unabhängige Entwickler können ihre kreativen Visionen unverfälscht verwirklichen und auf Steam oder im App Store verkaufen. So weit der Traum. Aber warum werden Spiele in der Wirklichkeit aus den neuen Märkten herausgeworfen? Und was wird dann aus der neuen Freiheit?

Die Spieldesignerin Miriam Bellard saß abends angetrunken mit ihrem Freund vor dem PC. Sie stellten sich eine nahe liegende Frage, die wenige laut aussprechen: Gibt es eigentlich auch pornografische Spiele? Von der Antwort war sie schockiert. Es gab nichts. Sie fand vor allem japanische Hentai-Spiele und billig produzierten Schrott. Warum hatte der Westen nichts zu bieten? An der Nachfrage konnte es kaum liegen. Sex verkauft sich in jedem Medium.

Rausschmiss

Wenige Jahre später machte Miriam sich selbständig, gründete No Reply Games und schuf "Seduce Me", ein schwüles Abenteuer voller Spielkarten und unersättlicher Damen. Sie entwickelte keinen Porno — viel Zeit vergeht mit Kartenspielen, wenig mit Sex. Der Titel wurde bei Steam Greenlight angemeldet; hier können Kunden selbst abstimmen, welche Titel eine Veröffentlichung im Downloadladen verdienen. Die Reaktionen der Spieler fielen zwiespältig aus. Nur Valve, die Betreiber des Stores, wurden sehr deutlich: Sie schmissen "Seduce Me" raus.

Rausgeschmissen wurde auch Ben Poynter. Der junge Künstler hatte es kommen sehen, aber auch auf etwas mehr Verständnis gehofft. Sein Spiel "In a Permanent Save State" widmet sich Arbeitern der chinesischen Firma Foxconn, die sich das Leben nahmen. Foxconn stellt unter anderem mobile Geräte von Apple her. Poynter reizte die Idee, sein Spiel auf der Plattform zu präsentieren, an deren Herstellung Menschen zugrunde gingen. Aber er bewegte sich Meilen von der plakativen Provokation einer PETA-Kampagne entfernt. Die Namen der Arbeiter, der Konzerne, aller eindeutigen Details wurden ausgeblendet. Die Kritik an Apple bleibt indirekt. Und die Problematik ist nicht neu. Apple hat bereits öffentlich bei Foxconn interveniert, Tim Cook besuchte eine Fabrik, der Konzern gelobte, genauer hinzuschauen. Wo also war das Problem? Es war das Medium. Spiele werden von Apple anders beurteilt, als Zeitungsartikel.

Keine offenen Märkte

Es dauert nie lang, bis irgendjemand Zensur erkennt. Aber wer das Wort ausspricht, wirkt schnell hysterisch. Weder Ben Poynter noch Miriam Bellard mussten ins Gefängnis. Niemand hat ihnen vor der Arbeit aufgelauert und ihre Familien bedroht. Sie dürfen immer noch sagen, was sie wollen. "Seduce Me" kann man jetzt auf der Webseite der Entwickler kaufen. "In a permanent Save State" ist gratis im Google Play Store erhältlich.

Apple und Valve haben ihr Hausrecht ausgeübt und Spiele rausgeworfen. Das dürfen sie. Ich muss auch nicht dulden, dass auf meinem Küchentisch Pornos gedreht werden oder eine Installation in meinem Flur an das Leid chinesischer Arbeiter erinnert. Ist das nicht vergleichbar?

Umzäunter Spielplatz

Ist es nicht. Denn Steam und der App Store sind nicht irgendwelche Orte. Apple duldet keine Häuser in der Nachbarschaft. Wer auf einem iOS-Gerät Inhalte verkaufen will, der muss in Apples voll kontrollierten Marktplatz. Wer dort nicht hineinkommt, bleibt auf der Straße. Poynter kann "In a Permanent Save State" online anbieten. Aber wer es auf einem iPhone spielen will, der muss das iPhone vorher knacken. Eigene Software darf man auf dem Smartphone nicht einfach so installieren.

In der Nachbarschaft von Steam stehen Häuser — GOG.com, Desura und IndieCity bieten ebenfalls Indie-Spiele zum Download an. Aber neben dem leuchtenden Wolkenkratzer wirken sie wie mickrige Bruchbuden. Sie ernähren sich von dem, was der Riese verschmäht. Und wer vom Verkauf eines Spiels leben will, der kommt kaum um Steam herum. Miriam kann "Seduce Me" auch anderswo verkaufen; aber ohne Steam fehlt die Öffentlichkeit zum Überleben.

Monopole bedrohen die Marktfreiheit

Zu einer freien Gesellschaft gehört auch die Freiheit, Geld zu verdienen. Wenn Mittelsmänner Marktmonopole erobern, ist diese Freiheit bedroht. Und weder Apple noch Valve scheinen sich mit ihrer Verantwortung wohlzufühlen. Sie stellen zwar Hausregeln auf, bleiben aber Antworten schuldig. Steam verbietet kurz und knapp "anstößige Inhalte", ohne die näher zu definieren. Apple hat sich immerhin die Mühe gegeben, einen längeren Text zu verfassen. Die Lektüre ist schmerzhaft. Wer eine Religion kritisieren oder über Sex schreiben wolle, der solle gefälligst ein Buch oder einen Song schreiben, heißt es dort wörtlich. Die Kunde von Spielen jenseits der Zerstreuung ist bei Apple also noch nicht angekommen. Was aber ist konkret nicht erlaubt? Dazu kann man sieben Seiten durchlesen, um beruhigt festzustellen, dass Poynters App eigentlich gegen keine Regel verstößt. Oder doch? Könnte man sie „defamierend" nennen? Gehässige Kommentare wären auch verboten, es sei denn, sie werden von Satirikern oder Humoristen gemacht. Realistische Darstellungen von Tod und Gewalt sind verboten, aber Fehlanzeige bei Poynter. Schuld ist der Passus, nach dem Feinde im Spiel nicht eine bestimmte Firma sein dürfen. Doch Apple oder Foxconn werden nie namentlich genannt.

Valve sagt wenig, Apple wenig Konkretes. Beide Strategien ergeben keine klaren Verhaltensregeln. Und so sind Poynter und Bellard auch längst nicht die Einzigen, die herausgeworfen wurden. Manche Fälle fallen unter Verbraucherschutz, andere sind so provokant, dass der Rausschmiss zu erwarten war.

Kontroverse Inhalte

Was aber ist so kontrovers an "Seduce Me" oder "In a Permanent Save State?" Das wird schwerer zu beurteilen, je genauer man hinschaut. Von weitem ist es einfach: Pornos haben beim US-amerikanischen Dienst Steam keine Chance. Und dass Apple keine Apple-Kritik in den Store lässt, ist kein Wunder. Tatsächlich enthält "Seduce Me" einige Bilder, die man pornografisch nennen könnte. Aber sie sind zahmer als jede Google-Bildersuche zu einschlägigen Begriffen. Wenn die Damen im Spiel mit dem Protagonisten vögeln, ihm einen Blowjob geben oder ihm den Hintern ins Gesicht halten, dann wird das mit einer einzigen Illustration belohnt. Auf allen davon sieht man nackte Menschen, auf einigen auch einen erigierten Penis, aber nicht aus der Nähe. Und der Weg zum Schmutz ist steinig. "Seduce Me" ist vor allem ein soziales Interaktionsspiel. Fünf einfache Kartenspiele simulieren verschiedene Gesprächsarten vom Smalltalk bis zum Flirt. Nur wer sich beliebt macht, kann auf amouröse Abenteuer oder gar ein Happy End mit einer der Frauen hoffen.

"Seduce Me" ist ein oberflächlicher Spaß. Das soll es auch sein. Provokant ist es nur, wenn man jede Form von Sex als Provokation begreift. Und Steam ist kein Kindermarkt. Ganz selbstverständlich werden dort gewalttätige Titel verkauft, die in den USA ab 17, in Deutschland ab 18 freigegeben sind. Hätte es in der Sommerresidenz statt Flirts ein Blutbad gegeben, wäre das Spiel nicht weiter aufgefallen.

Konzernkritik

Wer "In a Permanent Save State" spielt, der berührt die Konzernkritik nur indirekt. Den klaren Fokus legt Ben auf die individuelle Perspektive der Arbeiter. Menschen haben sich das Leben genommen, weil sie der Fertigung bestimmter Produkte entkommen wollten. Wo aber wollten sie hin? Was haben sie gedacht, welches Ziel hatten sie vor Augen? Diesen Fragen nähert sich "In a Permanent Save State" in spielbaren Metaphern, die mehr über Traditionen und gesellschaftliche Normen Chinas aussagen als über Apple. Dass keine Namen genannt werden, unterstreicht die Austauschbarkeit der Schicksale. Der Bösewicht ist nicht Apple oder Foxconn, sondern ein System der Ausbeutung.

Dass die Illustrationen aus "Seduce Me" in anderen Medien zum Skandal geführt hätten, ist schwer vorstellbar. Und "In a Permanent Save State" übt keine Kritik, die nicht vorher schon deutlicher formuliert wurde. Rüde und provokant wirkt vor allem das Verhalten der Gastgeber Apple und Valve, die Spiele einladen und dann mit fadenscheinigen Begründungen vor die Tür setzen.

Finstere Pläne?

Hinter Valves Angst vor Geschlechtsmerkmalen muss man keinen finsteren Plan vermuten. Die Softwarefirma ist vergleichsweise klein, nicht an der Börse notiert, und macht gar kein Geheimnis daraus, dass der Ansturm auf Steam sie mitunter überfordert. Mit dem Service Greenlight sollte eigentlich die Last der Entscheidung, welche unbekannten Spiele reindürfen und welche nicht, auf die Community abgewälzt werden. Als sich Beschwerden über das Spiel häuften, wurde vielleicht eine vorschnelle Entscheidung gefällt. Taucht Sex in Videospielen auf, droht in den USA eine hysterische Medienreaktion. Valve wollte wohl einfach nicht als Schmuddeldienst in die Schlagzeilen.

Schwerer als Kleinmütigkeit wiegt Apples verkrampfte Reaktion auf Kritik. Dass der Konzern in Spielen nicht mehr sieht als Unterhaltungsprodukte verkündet er ganz ungeniert. Der App Store ist einer der aufregendsten Marktplätze für neue, innovative Spielideen. Sein Betreiber hat den kulturellen Stellenwert des Mediums nicht im Geringsten verstanden.

Mängel werden kaum aufgezeigt

Ben Poynter und Miriam Bellard sind nur zwei Leidtragende dieses kalten Klimas. Gleichzeitig feiert die Medienöffentlichkeit neue Märkte, die sich überall auftun und redet wenig über offenkundige Mängel. Monopole geben Konzernen Verantwortung, die sie weder tragen können noch sollten. Und die neuen Märkte sind nicht offen. Die Vorauswahl mag ein notwendiges Übel sein, um Spielen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber unklare Regeln schaffen eine Kultur der Unsicherheit. Entwickler werden vor allem zur Selbstzensur ermutigt. Hängt das finanzielle Wohlergehen vom nächsten Spiel ab, dann sollte man die Finger von auch nur ansatzweise kontroversen Themen lassen.

Der kulturelle Flurschaden ist noch nicht abzusehen. Aber die drohende Verflachung liegt auf der Hand. Videospiele werden in das Unterhaltungsghetto gedrängt. Sie sollen sich bitteschön an etablierte gesellschaftliche Standards halten. Wer provozieren will, darf das tun. Aber nicht da, wo auch jemand zuschaut. (Jan Bojaryn, WASD 3)