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Von ihm narrative Geradlinigkeit zu verlangen ist so aussichtslos, wie bei Stockhausen einen Ohrwurm zu bestellen: Norbert Gstrein.

Foto: APA/EPA/Gordon Schmidt

Wie gefährlich ist Literatur? Das ist die eine Frage, um die Norbert Gstreins neuer Roman – buchstäblich – kreist. Darf ein Lehrer wissbegierigen Schülern Lektüretipps verabreichen, ohne über Risken und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen zu informieren? In Sylvie Schenks Schulroman Der Aufbruch des Erik Jansen (2012) ist Kafka die existenzerschütternde Droge, bei Gstrein verfüttert der Deutschlehrer Anton eine ganze Bibliothek hochprozentiger Bücher, von Camus bis Handke, an seinen Lieblingsschüler Daniel. Nun, zehn Jahre später, ist aus Daniel ein Outcast geworden, ein religiöser Eiferer, dem alle die Autorschaft einer Bombendrohung zutrauen: "Kehret um!", das sieht ihm ähnlich. 

In ihren ganz altmodischen Aspekten von Vorbild und Einfluss, intellektueller Wegweisung und Freundschaft ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler(in) heute Thema der Literatur, bald mit einer sexuellen, bald, wie hier, mit einer erotischen Komponente, einer stürmischen Zuneigung, allemal kompromittierend für den Pädagogen, wie das etwa auch Nina Bußmann in ihrem Debüt Große Ferien (2012) beschreibt. 

In Eine Ahnung vom Anfang berichtet der Ich-Erzähler, Professor an einem österreichischen Provinzgymnasium, von jenem Sommer damals, als Daniel und sein Freund Christoph sich ihm anschlossen, die heißen Tage mit ihm in seinem Haus am Fluss, einer desolaten Mühle, verbrachten, argwöhnisch beäugt von Spaziergängern. Den Sog der Aulandschaft, das schmerzhaft Intensive, das Flirrende und scheinbar Zeitlose der sommerlichen Nähe beschwört Gstrein mit meisterlicher Eindringlichkeit.

Der Fluss, Inbild der Bewegung und Verwandlung, steht zugleich für den Tod: Antons jüngerer Bruder hat sich einige Jahre zuvor in einer Höhle am Ufer erschossen. Seine Bücher sind es, die der Lehrer nun dem Schüler ans Herz legt, wie einst dem Bruder, dessen Leerstelle Daniel für kurze Zeit besetzt; Handkes Brüdergeschichte Die Wiederholung ist passenderweise darunter. Im Fluss hat auch Antons Onkel Selbstmord begangen, nicht weit davon ist der Großvater tödlich verunglückt.

Von diesem familiären Ber­mudadreieck aus legt Gstrein ein dicht gewirktes Tableau von Verstrickten bloß, die als Charaktere überzeugend Gestalt annehmen: Judith, das Mädchen, in das beide Burschen verliebt waren, Agata, die Kellnerin, die an Daniel einen Narren gefressen hat, der besorgte Direktor, Barbara, Antons Freundin, die damals beim Ansturm des jungen "Spinners" das Feld räumte, und der Kriminalpolizist, der nicht recht weiß, ob er Anton verdächtigen oder beschützen soll.

Nach dem Tod des Bruders war der Erzähler, von Schuldgefühl geplagt, für zwei Jahre nach Istanbul gegangen. Jetzt unterhöhlen die kollektiven Verdächtigungen aufs Neue seine mühsam gefestigte Psyche. Das Haus am Fluss verheißt, ganz in der Tradition von Henry Thoreau, der natürlich auf Daniels Leseliste steht, Heilung und Heil durch den Rückzug in die Natur – zugleich jedoch "etwas Heimliches und Unheimliches", ein extremes Ausgesetztsein. Rettung ist das Schlüsselwort dieses Buches, und in der Konkurrenz der Retter in jenem Sommer war ein Sekten-Reverend aus den USA bei Daniel erfolgreicher als der katholische Pfarrer und der aggressiv atheistische Deutschlehrer. Auch der findet am Schluss seinen Retter, gar Lebensretter aus den Fluten des Styx: Der Fluch des Flusses scheint gebannt.

Als Beobachter der Menschenfischer am Fluss begibt der Autor sich auf die Spuren des Anfangs: an den Ort einer Biografie, der als Nullpunkt erscheint, an dem alles möglich ist. Warum wird aus dem oder jenem nichts, der in der Schule ein einziges Versprechen war? Was heißt das: mit seinem Leben etwas anfangen? Und wo werden die Weichen zum glück­lichen, zum geglückten Leben gestellt? Ebenso fesselnd wie akribisch rekonstruiert Gstreins Erzähler die "Höhenkrankheit des Denkens", die Daniel sein Mathematikstudium abbrechen und nach Israel gehen lässt, wo die Wüste dem nach Erkenntnis Dürstenden Labsal verspricht.

Diesmal ist Gstrein eine Geschichte gelungen, die ihre Dringlichkeit schlicht offenbart – mit Menschen aus Fleisch und Blut. Freilich herrscht auch hier ein fundamentales Misstrauen gegen das gesprochene Wort, ja gegen das Pathos des Erlebens. Was die Menschen so tun und sagen, das sind alles "Lappalien", "Verrücktheiten", "Verranntheiten", "Verstiegenheiten" und "Sophistereien". Hie und da färbt das Verstiegene auf die Sprache des Romans ab, die "schiefe Bilder" und "schöne Sprüche" markieren zu müssen glaubt, die gar keine sind, und eigentümlich Undeutsches kultiviert wie die Phrase "einen Punkt daraus machen".

In seinem Stil der skrupulösen Arabeske folgt Gstrein den Windungen des Lehrerhirns, erzählt er gleichsam schaumgebremst, um der Story nur ja alles Reißerische auszutreiben. Nichts für ungeduldige Leser, aber von Norbert Gstrein narrative Geradlinigkeit zu verlangen ist ungefähr so aussichtslos, wie bei Stockhausen einen Ohrwurm zu bestellen. Schließlich kracht es zwar, dennoch trifft das Erwartete nicht ein. Am Ende fällt dem Kinderlosen erneut ein Sohn (oder Bruder?) zu – einmal mehr eine "Ahnung vom Anfang". (Daniela Strigl, Album, DER STANDARD, 27./28.7.2013)