Blick auf den Lake Hazen, weit über dem Polarkreis: Im Sommer blüht der geheimnisvolle See auf. Dann gehen die Forscher auf Fischfang.

Foto: Köck

Es ist einer der entlegensten Winkel der Erde: Von der Nordspitze der kanadischen Insel Ellesmere Island sind es weniger als 900 Kilometer bis zum Nordpol, Gletscher überdecken große Teile der Landschaft - aber nicht überall. Landeinwärts vom Chandler-Fjord blüht jeden Sommer das Leben auf. Eis und Schnee schmelzen weg, dafür gedeiht eine hübsche Tundravegetation. Das Gebiet gehört zum Quttinirpaaq National Park und steht somit unter strengem Schutz. Moschusochsen, Polarhasen, Karibus, Wölfe und viele weitere Tierarten sollen möglichst ungestört bleiben.

Im Herzen der Region liegt der rund 70 Kilometer lange Lake Hazen. Auch er taut zur Sommerzeit zumindest teilweise auf. Der See und seine Umgebung sind eine polare Oase, erklärt der Biologe und Arktisforscher Günter Köck. Im Westen schützen hohe Berge vor kaltem Wind, der dort liegende Schnee reflektiert zudem viel Sonnenlicht. Letzteres heizt das tiefer liegende Areal um den See auf, sodass die Temperaturen manchmal bis über 20 Grad Celsius steigen können, wie Köck berichtet. "Man kann sich das dann fast vorstellen wie auf einer österreichischen Alm." Im Winter zeigt das Thermometer allerdings mitunter minus 60 Grad an.

Günter Köck, der sowohl für die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wie auch an der Universität Innsbruck tätig ist, kennt das Gebiet fast so gut wie seine eigene Heimat. Schon seit 1997 ist er im Rahmen des Projektes "High-Arctic" an der Erforschung des Lake Hazen und dessen Ökosystems beteiligt. Das Gewässer beherbergt auch Fische. Es sind Seesaiblinge, zoologisch der Spezies Salvelinus alpinus zugehörig. Bemerkenswerterweise kommt diese Art auch in vielen Alpenseen vor. Das ermöglicht interessante Vergleiche, zum Beispiel in Bezug auf die Schadstoffbelastung der Tiere.

Lake Hazen wurde 1881 von einer US-amerikanischen Expedition offiziell entdeckt und in die Karten eingetragen. Die genauere Erkundung des Sees kam im 20. Jahrhundert nur sehr schleppend voran - bis zum Start von "High-Arctic". Das Projekt ist eine österreichisch-kanadische Forschungskooperation und wird unter anderem aus Mitteln der ÖAW finanziert. Die Tiefenkartierung des Lake Hazen fand hauptsächlich im Mai 2004 und Juni 2005 statt. Der See war zu diesen Zeitpunkten noch zugefroren.

Günter Köck und seine Kollegen nutzten GPS-gekoppelte Sonargeräte und peilten direkt durch die Eisdecke. Zusätzliche Messungen wurden im August 2006 und August 2010 von einem kleinen Boot aus durchgeführt. Als Endergebnis legten die Experten erstmalig eine präzise Karte des Bodenprofils des Gewässers vor. Der tiefste Punkt liegt demnach 267 Meter unter der Wasseroberfläche, große Bereiche sind mehr als 100 Meter tief. Weitere Details wurden im vergangenen Jahr in der Fachzeitschrift Arctic veröffentlicht.

Die Forscher nahmen auch Sedimentproben aus dem Seeboden. Deren Analyse zeigt eine deutliche Zunahme der abgelagerten organischen Kohlenstoffverbindungen seit ungefähr 1940 - um satte 34 Prozent. Vermutlich ist dies eine Folge des Klimawandels.

Steigende Lufttemperaturen erwärmen die normalerweise dauerhaft gefrorene Erde rund um den Lake Hazen. "Durch das verstärkte Auftauen des Permafrost wird mehr Kohlenstoff eingetragen", sagt Köck. Schmelzwasser transportiert die organischen Stoffe aus den Böden über Bäche in den See. Sedimente werden ebenfalls verstärkt eingespült - mit potenziellen Folgen für das Ökosystem. Mehr Eintrag könnte die Biomasseproduktion beeinflussen.

Happy Rocks und Mücken

Noch aber sind Lake Hazen und andere kanadische Arktisseen extrem nährstoffarm, wie Günter Köck betont. "Die Gewässer sind ultraoligotroph." Die Steine im Flachwasser am Ufer sehen zum Teil aus wie geputzt, solche mit Algenaufwuchs werden von einheimischen Inuit-Teammitgliedern "happy rocks" genannt. Kein Wunder also, dass auch die Nahrungskette sehr kurz ist. Die Wirbellosenfauna im Bodenbereich des Lake Hazen besteht im Wesentlichen aus Chironomiden, Zuckmücken und ihren Larven, sowie aus Köcherfliegen, Fadenwürmern und Flohkrebsen, erklärt Köck. Dieses Kleingetier dient den Seesaiblingen als Futter. Andere Fischspezies fehlen.

Doch Seesaibling ist nicht gleich Seesaibling. Im Lake Hazen kommen unterschiedliche Saiblingstypen vor. Fachleute bezeichnen sie als Ökomorphe. Jeder von ihnen hat eine eigene spezielle Lebensweise und Diät. "Die nischen sich unterschiedlich ein", sagt Biologe Köck.

Eine dieser Formen lebt als Raubfisch und ernährt sich kannibalisch von kleineren Artgenossen. Sie wird bis über 70 Zentimeter lang. Ein zweiter Typ frisst hauptsächlich Chironomiden. Insgesamt, meint Köck, könnte es im Lake Hazen bis zu fünf verschiedene Seesaiblingsökomorphe geben. Zwischen ihnen gibt es keine genetischen Unterschiede, aber sie lassen sich meistens an der Färbung und der Gestalt erkennen.

Saiblinge gelten bei den Einheimischen als beliebte Speisefische, ein Genuss mit gewissen Risiken, denn die langsam wachsenden Tiere lagern in ihrem Muskel- und Fettgewebe Schadstoffe wie zum Beispiel Quecksilber an. Das Gift wird über die Luft aus Industrieregionen in Asien und Nordamerika in die Arktis transportiert und fällt dort mit den Niederschlägen aus. Mancherorts liegt die Quecksilberbelastung von Saiblingen schon weit über den gesetzlichen Grenzwerten.

Um das Problem der Schadstoffbelastung genauer zu erforschen, fangen Wissenschafter regelmäßig Saiblinge und analysieren deren Gewebe. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen einen seltsamen Trend: Zwar ist die Menge des über die Luft in die Seen eingetragenen Schwermetalls praktisch unverändert hoch, doch in den Saiblingen spiegelt sich das nicht wider, berichtet Günter Köck. "Es ist tatsächlich so, dass die Quecksilberkonzentration in den Fischen mittlerweile deutlich abnimmt." Auch in diesem Fall ist die Ursache vermutlich der Klimawandel, zumindest indirekt.

Entgiftete Seesaiblinge

Die Seesaiblinge wachsen nachweislich schneller als in den 1990er-Jahren, erklärt Köck. Das dürfte daran liegen, dass die Seen seit einigen Jahren früher auftauen und es deshalb früher und reichlicher Insekten als Nahrung gibt - mit einem erfreulichen Zusatzeffekt. Der Stoffwechsel der Fische beschleunigt sich, und möglicherweise funktionieren dann ihre körpereigenen Entgiftungsmechanismen besser.

Denkbar sei allerdings auch eine geringere Quecksilberaufnahme aufseiten der Chironomiden, meint Köck. Die biologische Verfügbarkeit des Schwermetalls wird schließlich durch mikrobielle Prozesse im Boden entscheidend beeinflusst, und diese wiederum sind temperaturabhängig. In den kommenden Jahren wollen die österreichischen und kanadischen Forscher diesen offenen Fragen weiter auf den Grund gehen: Vergangene Woche startete das Team seine 17. "High Arctic"-Expedition - und hofft nun auf besseres Wetter zum Fischen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 31.7.2013)