
Ein Romancier, der glänzend Geschichte schreibt und drei Leben als antitotalitäre Kunstwerke schafft: Alex Capus.
Was? Wann? Wo? Wer? Weshalb? Und was hat sich später daraus ergeben? Das sind die Fragen der Historie und eines jeden, der sie zu Papier bringen will. Was hat man, als Publikum, davon? Lehrt Geschichte etwas? Und, bitte, was? Darauf antwortete der Historiker Golo Mann einmal: "Dies ist es, was Geschichte uns lehren kann: nicht zu viel von der Zukunft zu erwarten, nicht zu meinen, man könne überblicken, was kein begrenzter Geist überblicken und erklären kann. Das Studium der Geschichte ist das beste Gegenmittel gegen den Fanatismus, den Extremismus und die Selbstgerechtigkeit."
Und er ging noch einen Schritt weiter: "Sie lehrt uns eher den Glauben an das Maß, an die Vorsicht, den Verzicht angesichts der Beharrlichkeit des Faktischen als den Glauben an selbstgerechte Härte und totale Lösungen." Nun war der Sohn Thomas Manns als Historiker Außenseiter: weil er erzählen wollte. Und weil Geschichte sich bei ihm, etwa in der Wallenstein-Biografie, liest, als sei es ein Roman: spannend, dramaturgisch ausgefeilt, sprachlich intensiv.
Geschichte ist seit seinen literarischen Anfängen die zentrale Quelle für Alex Capus. Bereits in Munzinger Pascha von 1994 fabulierte er ein historisches Leben. Auch sein letzter Roman Léon und Louise war, obschon Liebesromanze, faktische Historie, Familiengeschichte nämlich.
Der neue Roman des in Olten in der Schweiz lebenden studierten Historikers und auch als Journalist tätigen Autors ist aber kein Roman, auch wenn dies sein Verlag auf Schutzumschlag und Titelseite druckt. Es ist ein essayistisches Erstehenlassen, eine historische Fantasie, eine wissenschaftliche Träumerei.
Eine wissenschaftliche Träumerei? Fast exakt in der Mitte des Buches heißt es: "Die Wissenschaftler sind doch die ersten, die ihr lückenhaftes Wissen mit Träumereien anreichern - anreichern müssen! Gerade Archäologen und Geschichtsschreiber hätten doch überhaupt rein gar nichts zu erzählen, wenn sie sich streng an ihre empirischen Daten halten würden. Alle Wissenschaft ist Erzählung und überspringt von Faktum zu Faktum eine Wissenslücke nach der anderen. Die Fakten sind die unteilbaren kleinsten Teile der Wissenschaft, und zwischen ihnen klaffen Universen gähnender Leere."
Was nun hat dies mit den drei realen, gelebten, historisch überlieferten Leben zu tun, von denen Capus parallel erzählt? Was mit dem pazifistisch eingestellten jüdischen Atomphysiker Felix Bloch (1905-1983) aus Zürich, der 1934 von Leipzig an die Stanford University in Kalifornien geht, an der er bis 1971 lehren wird (1952 erhält er den Nobelpreis für Physik zugesprochen), sich mit Robert Oppenheimer anfreundet und in Los Alamos am Bau der ersten Atombombe mitarbeitet.
1943, vor dem Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki, zieht sich Felix Bloch aus dem Atombombenprojekt zurück und entdeckt später die Kerninduktion, die der Medizin die bildgebende Technik der Magnetresonanztomografie beschert?
Was ist mit Vater und Sohn Gilliéron (1885-1939), die beide den Vornamen Émile tragen, beide hochbegabte Zeichner sind, von denen der Ältere, den es vom Genfer See via Paris nach Athen verschlägt, mit Heinrich Schliemann zusammenarbeitet und für ihn fantasievolle Szenarios fern akademischer Wissenschaftlichkeit zu Papier bringt. Der Jüngere wird für den Engländer Albert Evans tätig, der auf der griechischen Insel Kreta den Palast des König Minos ausgraben will. Gilliéron befreit für ihn die Funde antiakademisch von jeder Nüchternheit und überführt sie zeichnerisch in eine imaginäre Vision der untergegangenen Kultur.
Und was verbindet diese mit dem Leben Laura d'Orianos, der 1911 geborenen Tochter eines italienischstämmigen Musikers und einer Tänzerin, die 1921 aus Smyrna fliehen und sich ab 1924 in Marseille eine neue, bescheidene Existenz aufbauen muss, die ebenfalls Tänzerin wird und eine Ehe mit einem Schweizer eingeht, der sie in sein Heimatdorf Bottighofen am Bodensee verpflanzt.
Von dort flieht sie, ihre Töchter zurücklassend, binnen kurzem und wird 1940/41 an der Côte d'Azur als Spionin von der exilfranzösischen Regierung General de Gaulles rekrutiert, die italienische Flotte in Bordeaux auszukundschaften. Bei ihrem zweiten Auftrag wird sie in Italien von Mussolinis Geheimpolizei verhaftet und am 16. Jänner 1943 erschossen, als einzige Frau während der Existenz des Königreichs Italien.
Es geht Alex Capus um Traum und Nichtvollendung, um das Ergänzen historischer Lücken durch Fantasie, um faktenreiches Überschreiben, um Verantwortung für sich, den Abschied von Idealen und die Verarbeitung unwiderruflicher Veränderungen.
Es ist ein hochmoralisches Buch und dabei auf keiner Seite penetrant moralisierend. Dafür schreibt Capus zu leicht, dramaturgisch zu gewitzt, sprachlich zu eindringlich. Er recherchierte in Archiven, las die Verhörprotokolle d'Orianos, stöberte in Blochs eigenhändig geordneten Papieren und stieß darin auf das aussagekräftige Beschweigen des Manhattan-Projekts wie Oppenheimers. Hier schreibt ein Romancier glänzend Geschichte und kreiert drei Leben als antitotale Kunstwerke. (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 3./4.8.2013)