Selbst Vorurteile unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel. Also auch jener tief verankerte "kulturelle Code", der in Österreich die bisher mörderischsten Folgen gezeitigt hat: der Hass auf Juden, verwissenschaftlicht Antisemitismus genannt.

"Irgendwo in den 60er-Jahren", so schreiben der Linzer Historiker Michael John und der Wiener Psychologe Matthias Marschik, hätten die krudesten Äußerungsformen des antijüdischen Ressentiments die Bühne gewechselt. Aus der (oft politischen) Öffentlichkeit in "Orte beschränkter Publizität", auf "Sportplätze, ins Wirtshaus, in öffentliche Verkehrsmittel".

Dort treiben sie seither wilde Blüten. Auch "ohne jüdische Spieler und ohne erkennbare jüdische Anhänger" komme es auf heimischen Fußballplätzen etwa immer wieder zum Skandieren antisemitischer Losungen: ein absurd wirkender Ausdruck des "gesellschaftlich relevanten" Phänomens Antisemitismus, dessen wissenschaftliche Erforschung das vorliegende Buch über die österreichischen Forschungslücken hinweg vorantreiben möchte.

Mitverantwortlich für das Festhalten an den Stereotypien sei das erschrockene Ausweichen vor der Auseinandersetzung, betont der Innsbrucker Historiker Thomas Albrich. Sein Aufsatz über den Umgang mit ostjüdischen Überlebenden des Holocaust unmittelbar nach Kriegsende ist besonders zu empfehlen.

Doch auch eine Eigenheit des antisemitischen Gedankengebäudes als solchem könnte an der Kontinuität beteiligt sein: Dieses - so der Germanist Georg Schmid - sei "autogenerativ", bestehe also aus sich selbst heraus. Unter anderem zum Zwecke der Schuldabwehr. Nur ein Fortdauern des Antisemitismus liefere eine "Rechtfertigung für all die Raubzüge". (Irene Brickner/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. 7. 2003)