Standard: Sind in der Euro-Schuldenkrise die größten Schritte zur Lösung bereits getan, oder ist es noch ein weiter Weg?
Kalish: Es gibt Fortschritte, viele Dinge müssen aber noch gelöst werden. Die Banken sind ein Beispiel. Es gibt noch immer keinen Plan, wie Banken abgewickelt werden können. Das Problem in Europa ist das Fehlen einer großen Strategie. Die USA oder Japan haben sich für den Wachstumspfad entschieden, Europa hat den Weg des Sparens gewählt. Das führt zu einem Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung. In den USA erholt sich die Wirtschaft bereits das vierte Jahr in Folge. Europa muss es schaffen, trotz der Sparmaßnahmen die Wirtschaft anzukurbeln. Je länger das dauert, desto schlimmer wird die Lage werden. Die USA, China und Japan stehen nicht still. Das könnte Europa Wettbewerbsnachtteile bringen.
Standard: Aber wie könnte Europas Wirtschaft von der Sparpolitik zu Wachstum kommen?
Kalish: Durch Reformen. Griechenland hat schon viel getan, aber auch noch einen weiten Weg vor sich. Privatisierungen müssen angegangen werden. Die niedrigen Zinsen veranlassen Banken auch nicht zur Kreditvergabe. Das billige Geld kann die Wirtschaft damit auch nicht beleben.
Standard: Und die US-Banken sind in der Kreditvergabe forscher?
Kalish: Es verbessert sich. Der einzige Bereich, wo wir noch nicht viel Bewegung gesehen haben, ist bei Krediten für Hauskäufer, die keine Top-Bonität haben. Jene mit guter Bonität haben kein Problem, an Kredite zu kommen. Zurückhaltend sind die Banken auch noch bei der Finanzierung von Immobilienprojekten, dafür haben Kredite für Autos zugenommen. Gestiegen ist die Kreditnachfrage aus dem kulturellen Bereich, dort wird aber noch sehr zurückhaltend agiert.
Standard: Wie beurteilen Sie die Emerging Markets (EM), die Schwellenländer? Die Euphorie der Investoren lässt nach, sie ziehen ihr Geld ab.
Kalish: Wir mögen die EM-Story noch immer, sind aber selektiver geworden. Wir setzen weniger auf die Bric-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China, sondern auf Länder wie Indonesien, Thailand, die Philippinen. Auch die Türkei und Mexiko sind interessant. Osteuropa ist für uns weniger attraktiv - die Märkte dort sind zwar günstig bewertet, das kann aber auch heißen, dass sie das noch für längere Zeit bleiben. Die Abflüsse aus den Bric-Staaten haben auch damit zu tun, dass US-Fed-Chef Ben Bernanke angedeutet hat, dass die Fed ihre Anleihenkäufe zurückfahren könnte. Alle Investoren, die auf EM-Schulden oder EM-Währungen gesetzt haben, finden sich jetzt in einem neuen Umfeld wieder.
Standard: Was bedeutet es für Länder, wenn Investoren diese erst mit Geld überschwemmen und es dann wieder massiv abziehen? Entsteht dabei ein Schaden?
Kalish: Das kann passieren. Einige Länder haben ja versucht, den Kapitalfluss zu regulieren. Das kann gutgehen, muss es aber nicht. In Brasilien haben die Versuche, nicht so viel Geld ins Land zu lassen, den Real geschwächt. Auch in die Türkei fließt viel 'hot money'. Es muss den Ländern bewusst sein, dass das auch schnell wieder abgezogen werden kann.
Standard: Wie steht es um China? In Europa heißt es immer, alles ist gut, solange China wächst. Jetzt schwächelt das Land aber ...
Kalish: Wir machen uns wegen China keine Sorgen. Das Land durchläuft eine Transformation. Als sich China auf den Weg machte hin zu einer Industrialisierung, war die Wirtschaft relativ klein. Dann wurde daraus eine Eine-Billion-Dollar-Wirtschaft, dann eine Zwei-Billionen-Dollar-Wirtschaft. Als China damals um zehn Prozent gewachsen ist, hat das dem BIP 200 Milliarden Dollar zugeführt. Um heute, wo China eine 8,5-Billionen-Dollar-Wirtschaft ist, ein BIP-Wachstum von 200 Milliarden abzubilden, muss das Land nicht um zehn Prozent wachsen. Eine langsamere Wachstumsrate gibt dem Land die gleiche Erhöhung. Auch China wird nicht auf ewig um acht Prozent jährlich wachsen können.
Standard: Zumal sich das kreditfinanzierte Wachstum nun rächt ...
Kalish: Die Einschnitte, die China im Bankensektor und beim Kreditwachstum unternimmt, sind notwendig. Der Fokus hin auf den Konsum ist ebenso wichtig. Das Einkommen der Arbeiter muss weiter erhöht werden. Höhere Einkommen und eine niedrige Inflation schaffen Reallohnzuwachs. Das braucht China: um den Konsum im Land weiter anzukurbeln und weil das Land kein wirkliches Sozialnetz hat und dadurch die Leute mehr sparen.
Standard: Wird in Japan der Regierungschef Shinzo Abe mit seiner "Abenomics" das Land aus der Stagnation führen?
Kalish: Ich glaube, die Pläne von Abe sind gut und machen Sinn. Das Problem jeder Strukturreform ist aber, dass diese Zeit braucht. Japan will seine Exporte ankurbeln, der schwächere Yen ist dabei eine Hilfe. Das wiederum schwächt Korea, Europa und die US-Verkäufer - bringt aber auch mehr Wettbewerb in einige Produkte. Japans Wirtschaft lebt zu 64 Prozent vom Inlandskonsum. Um das auszubauen, braucht es auch Lohnerhöhungen. Die Löhne stagnieren in Japan seit 1995. Hinzu kommt, dass die japanische Gesellschaft eine alte ist, die älteren Leute haben nicht mehr den laufenden Konsumimpuls. Also stellt sich schon die Frage der Nachhaltigkeit beim Inlandskonsum.
Standard: Ein Blick über die Weltkarte: Wo schlummert Ihrer Meinung nach derzeit ein Risiko, das noch zu wenig Beachtung findet?
Kalish: Mich besorgen die Vorgänge rund um Schieferöl und -gas in Amerika. Diese Vorkommen machen die Amerikaner unabhängiger vom Öl, womit der Ölpreis sinken wird. Für die Konsumenten ist das gut. Wenn der Ölpreis dauerhaft unter 100 Dollar fällt, erhöht das aber den politischen Druck in den Öl exportierenden Ländern wie Saudi-Arabien oder Venezuela, wo soziale Programme aufgrund eines steigenden Ölpreises kalkuliert sind. Was passiert, wenn diese Leistungen gestrichen werden müssen? Im Nahen Osten gibt es bereits Unruhen, und noch ist der Ölpreis hoch. Was erwartet uns, wenn er auf 80 Dollar sinkt? Das Spiel mit dem hohen Ölpreis könnte enden.
Joe Kalish ist beim unabhängigen Research-Unternehmen Ned Davis für die makroökonomische Analyse verantwortlich. Er war auf Einladung der Kathrein Privatbank in Wien.
"Europa hat den Weg des Sparens gewählt", sagt Ökonom Kalish, mit Protesten als Folge. Foto: Reuters
Auch China wird nicht ewig um acht Prozent jährlich wachsen können.
Joe Kalish
(DER STANDARD, 5.8.2013)