Bild nicht mehr verfügbar.

Zerstörung nach dem Anschlag im türkischen Grenzort Reyhanli im Mai.

Foto: AP

Mihrac Ural

Foto: Screenshot/Facebook
Foto:

"Zuallererst: Es gibt keinen Bürgerkrieg in Syrien", sagt Mihrac Ural. Das überrascht, denn der 57-Jährige kommandiert selbst eine Pro-Assad-Miliz im Norden der syrischen Küstenregion.

Nur wenige Stunden nach dem verheerenden Autobombenanschlag im türkischen Grenzort Reyhanli Anfang Mai wurde er der türkischen Öffentlichkeit als mutmaßlicher Drahtzieher präsentiert. Der türkische Staatsbürger alawitischer Konfession lebt seit dem letzten türkischen Militärputsch in Syrien - und ist nach türkischen Regierungsangaben das "Mastermind" hinter dem Anschlag, der über 50 Zivilisten das Leben gekostet hat. Doch so schnell die Anschuldigung auch kam, so deutlich ist das Dementi Urals im Gespräch mit derStandard.at: "Aber warum soll ich meine Nachbarn, Freunde und Verwandten gefährden oder töten wollen, frage ich. Schließlich bin ich in Hatay geboren worden!"

Banyas-Massaker

Der Milizchef wurde ebenso beschuldigt, er wäre beim Massaker in Banyas (Provinz Latakia) Anfang Mai 2013 involviert gewesen, bei dem sunnitische Zivilisten zusammengetrieben und getötet wurden. Auch diesen Vorwurf will der Chef der PFLI nicht so stehen lassen. "Dieses Verbrechen hat die örtliche Al-Nusra-Gruppe verübt, da sie ansonsten das friedliche Latakia nicht in Brand setzen könnte", behauptet Ural und fährt fort: "Meine Waffenbrüder und ich sind im Norden Latakias stationiert und waren zum Zeitpunkt des Banyas-Massakers nicht vor Ort, nicht einmal in der Nähe."

Ein Video auf Youtube war kurz nach dem Banyas-Massaker aufgetaucht und zeigt Ali al-Kayyali, Urals Kampf- und Deckname in Syrien, wie er vor Kämpfern und Anhängern von der Notwendigkeit spricht, Banyas als "Einfallstor für die Verräter" zu säubern und zu schließen. Konkret auf dieses Video angesprochen, wird Ural spitzfindig: "Ich verwende die beiden Worte "tahirir" (Rettung) und "tathir" (Säuberung) im Video, doch diese sind klare militärische Begriffe, die natürlich nicht auf ethnische und konfessionelle Säuberungen abzielen. Außerdem wurde das Video am 2. Mai 2013 aufgenommen, womit klar ist, dass ich beim Banyas-Massaker nicht vor Ort sein konnte."

In Tradition der Résistance

Ural hat über die revolutionäre Linke in den 70ern den Weg nach Syrien gefunden und soll seitdem die Operationen des syrischen Geheimdienstes in der Türkei "mitbetreuen". Seine Miliz, die er selbst in der Tradition der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer sieht, nennt sich "Popular Front for the Liberation of Iskanderoun/Syrian Resistance" (PFLI) und hält nach Angaben Urals "salafistische Terroristen" vom Einsickern nach Syrien ab. Urals PFLI gehört zu jenen Pro-Assad-Milizen, die im Zuge der Erosion der syrischen Armee gegen Rebellengruppen wie die Freie Syrische Armee, Al-Nusra oder die Kampfverbände der syrischen Kurden aktiv wurden und sich vor allem aus alawitischen Freiwilligen rekrutieren. Aron Lund vom schwedischen Institut für Internationale Politik sieht die Pro-Assad-Milizen wie jene von Ural langfristig als Last für Assads Ambitionen, an der Macht zu bleiben, da diese immer weniger direkt von Assad-Getreuen oder gar Baath-Funktionären kontrolliert würden, sondern zusehends eigene Agenden und Ambitionen entwickeln dürften, je länger der Bürgerkrieg in Syrien anhält.

Und der Konflikt wird immer konfessioneller: Länder wie der Iran oder die schiitische Hisbollah-Miliz kämpfen aufseiten des alawitischen Diktators, sunnitische Mächte wie Katar, Saudi-Arabien, aber auch die Türkei unterstützen die Freie Syrische Armee und andere sunnitische Oppositionsgruppen. So sieht Ural den Kampf der Seinen und Assads als einen Widerstand gegen imperialistische Pläne der Amerikaner und Israelis. "Was den Israelis 2006 (im Südlibanon, Anm.) nicht gelang, wollen die Amerikaner nun in Syrien selbst erreichen", erklärt Ural die Frontlinien des Konflikts und schlägt damit propagandistische Töne an, die auch jenseits der syrischen Grenzen vernommen werden.

Flüchtlingskrise

Auch in der Südtürkei gerät das konfessionelle Gleichgewicht durch den Zustrom an vorwiegend sunnitischen Kriegsflüchtlingen ins Wanken. Knapp 300.000 Flüchtlinge aus Syrien sind entlang der türkisch-syrischen Grenze vorläufig untergekommen. Der Milizchef behauptet allerdings, dass noch vor Beginn der Kämpfe in Syrien die Regierung in Ankara die großen Flüchtlingslager errichten hat lassen. Mit einer - nach Urals Ansicht - klaren Absicht: "Die AKP will den syrischen Flüchtlingen türkische Pässe geben, um dankbare Wählerstimmen in der Region zu haben und die Zusammensetzung der Bevölkerung vor Ort zu ändern."

Unmittelbar nach dem Anschlag im türkischen Reyhanli waren syrische Flüchtlinge von aufgebrachten Einwohnern attackiert und Autos mit syrischen Kennzeichen demoliert worden. Nebst oppositionellen Gruppen, die die Linie der Regierung Erdogan scharf attackieren und die Haltung der Türkei zum Syrien-Konflikt als Vorspiel zu einem imperialistischen Interventionsversuch der Amerikaner (oder natürlich der Israelis) deuten, ist auch die Sympathie vieler türkischer Alawiten in der Region für das Assad-Regime offensichtlich. Ural: "Tausende Freiwillige aus der Türkei haben sich bei uns gemeldet, doch wir akzeptieren diese Anfragen nicht und halten diese Menschen an, in der Türkei friedlich gegen die imperialistischen Ambitionen zu kämpfen."

Scheinbare Ruhe

Trotz Flüchtlingskrise und Kämpfen hält Ural daran fest, dass sich Syrien nicht im Bürgerkrieg befindet. Der syrische Badeort Ra's al-Bassit, nahe dem Hauptquartier von Urals PFLI, soll laut dem Milizchef nach wie vor syrische Urlauber beherbergen. Zur Untermauerung seiner Nicht-Bürgerkrieg-These behauptet Ural, dass diese Gäste genauso unbeschwert ihre Ferien dort verbringen könnten wie vor Beginn der innersyrischen Kämpfe. Doch diese scheinbare Ruhe ist wohl endgültig vorbei, und der Bürgerkrieg überschreitet die Grenzen des alawitisch-dominierten Latakia. Wie Al Jazeera berichtet, haben die FSA und die Al-Nusra eine gemeinsame Offensive gegen die Assad-Bastion an der Küste gestartet. (Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 7.8.2013)