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Das österreichische Wahlsystem sei "antiquiert", meint Politikwissenschafter Bauböck, der an einer EU-weiten Vergleichsstudie mitgearbeitet hat.

Foto: apa/jäger

Eine Million der in Österreich lebenden Menschen darf an der Nationalratswahl nicht teilnehmen, in Wien dürfen sogar 21 Prozent nur deshalb nicht mitstimmen, weil er oder sie keinen österreichischen Pass besitzt – und im 15. Wiener Gemeindebezirk sind sogar 34 Prozent der Bürger im Wahlalter nicht wahlberechtigt. Während die Bevölkerung wächst, nimmt die wahlberechtigte Bevölkerung stetig ab. Die Folge: eine " bedenkliche demokratiepolitische Kluft", wie es SOS Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak nennt.

"Kein allgemeines Wahlrecht mehr"

Noch weiter geht der Politologe Gerd Valchars von der Uni Wien: "Man kann heute sagen, dass das allgemeine Wahlrecht in Österreich kein allgemeines mehr ist." Die Folge: "Menschen, die den Gesetzen unterworfen sind, können diese Gesetze nicht mehr mitbestimmen."

Österreich sei in der EU ein Nachzügler in puncto Ausländermitbestimmung, meint auch Politologe Rainer Bauböck vom European University Institute in Florenz, der für das Europäische Parlament eine  Vergleichsstudie über die politische Mitbestimmung von Drittstaatsangehörigen in der EU erstellt hat: Einerseits geize unser System mit Möglichkeiten der Mitbestimmung für Nicht-Staatsbürger. Andererseits sei der Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft so hürdenreich wie noch nie. Die Kombination aus diesen Faktoren führt dazu, dass sich Österreich von den meisten EU-Staaten deutlich abhebt, was den Zugang der ImmigrantInnen zu den Wahlurnen betrifft.

Ein Beispiel: Ein 16-jähriger in Paris lebender Schüler, der noch nie in Österreich war, dürfte an den Wahlen im September teilnehmen, wenn seine Eltern Auslandsösterreicher sind. Im Gegensatz dazu darf die 16-jährige Tochter von Zugewanderten, die an den hohen Einbürgerungshürden bislang gescheitert sind oder ihre alte Staatsbürgerschaft nicht verlieren wollten, nicht Wählen gehen, obwohl sie hier aufgewachsen ist.

"Antiquiertes System"

Das österreichische System sei "antiquiert", meint Bauböck. Einige EU-Staaten bürgern neugeborene Kinder von Zugewanderten automatisch ein, somit sind sie ab Erreichen der Altersgrenze wahlberechtigt. Dazu kommt, dass die allermeisten Staaten nicht mehr so fest an der Doppelstaatsbürgerschaft klammern, wie Österreich das tut. Die Vorschrift, dass man den alten Pass zurückgeben muss, wenn man einen österreichischen bekommt, stelle für viele Einwanderungswillige eine überwindbare Hürde dar, meint auch Valchars: Das habe meist wenig mit mangelnder Loyalität zur österreichischen Gesellschaft zu tun, vielmehr gehe es häufig darum, im Herkunftsland das Erbrecht und das Recht auf visafreie Einreise nicht verlieren."

Viele, die bereit wären, ihre alte Staatsbürgerschaft aufzugeben, scheitern zudem an den langen Fristen und den hohen Einkommenshürden: Nur, wer zehn Jahre lang ununterbrochen hier gelebt hat, darf einen Antrag auf Einbürgerung stellen, der wiederum nur dann bewilligt wird, wenn man ausreichend Geld verdient. In Deutschland hingegen gibt es nach acht Jahren einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung.

Die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten hat inzwischen das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppelt, Drittstaatsangehörige dürfen in 16 Ländern zumindest an Kommunalwahlen teilnehmen. Großbritannien sichert Zugewanderten aus Irland und den Commonwealth-Staaten sogar auf nationaler Ebene das Wahlrecht zu. Weltweit am weitesten geht Neuseeland: Hier dürfen Zuwanderer schon nach einem Jahr Aufenthalt auf allen Ebenen wählen und gewählt werden. 

Koalition gegen Lockerung

Im Staatssekretariat für Integration kann man dem Vorschlag, das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft zu entkoppeln, wenig abgewinnen: "Die Staatsbürgerschaft muss Bedingung bleiben", sagt ein Sprecher. Andernfalls hätte es keinen Vorteil mehr, sich einbürgern zu lassen. Auch die SPÖ hat "keine Bestrebungen, das Wahlrecht zu ändern", hieß es im Büro von Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos. Anders die Grünen: "Der Lebensmittelpunkt soll über Mitbestimmungsrechte entscheiden, nicht der Reisepass", sagt Menschenrechts-Sprecherin Alev Korun. "Viele Menschen sind den österreichischen Gesetzen unterworfen und können sie nicht mitbestimmen." (Maria Sterkl, Julia Niemann, derStandard.at, 13.8.2013)