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"Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ich mein Fahrrad irgendwo unversperrt an die Wand lehnen könnte, im Vertrauen, dass es nicht gestohlen wird."
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der mir nicht peinlich bewusst wäre, dass ich Pathos gewöhnlich nur homöopathisch einzusetzen versuche. In der ich auch nicht wüsste, dass dieses technische Mittel bei der Literaturkritik zu Recht unter Verdacht steht. In der ich die bissigen Kommentare, die möglicherweise auf mich zukommen werden, ignorieren oder mir zumindest einreden könnte, dass sie in Wahrheit nichts mit mir zu tun haben. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ich keine Zweifel hätte, diesen Text so zu veröffentlichen, wie er hier geschrieben steht. In der ich es schaffen würde, über meine Ängste hinwegzusehen, die mich darauf hinweisen, dass ich mich besser hinter einer schützenden Mauer aus Ironie und Zynismus oder schlicht hinter einer unkommentierten Aufzählung hätte verstecken sollen.
Ehrliche Meinung
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ich mein Fahrrad irgendwo in der Stadt unversperrt an eine Wand lehnen könnte, in dem Vertrauen, dass es nicht gestohlen würde. In der ich spät nachts in ein Fast-Food-Restaurant gehen könnte, ohne mit ansehen zu müssen, wie sturzbetrunkene junge Erwachsene sich nicht zurückhalten können, der Bedienung Ich liebe dich ins Gesicht zu lallen. In der ich den Vorgesetzten gegenüber meine ehrliche Meinung sagen könnte, ohne dabei Angst haben zu müssen, wenige Tage später von irgendjemandem ersetzt zu werden. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ich frühmorgens die öffentlichen Verkehrsmittel betreten könnte, ohne journalistische Schundblätter vor die Nase gehalten zu bekommen. In der ich den Mut hätte, meinen Eltern zu sagen, dass ich sie liebte, obwohl oder gerade weil sie mich in diese Welt gesetzt haben. In der ich einem Kind auf die Frage hin, ob es denn auch irgendwann sterben werde, nicht wahrheitsgemäß mit einem Ja antworten müsste.
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der der öffentlich-rechtliche Rundfunk bzw. das Fernsehen den Bildungsauftrag ernst nehmen würde, anstatt die Quoten als höchstes Gut zu erachten. In der infolgedessen nicht einmal eine Minute daran verschwendet werden müsste, ob eine Abschaffung des Bachmannpreises oder die Beendigung der finanziellen Beteiligung am Österreichischen Musikfonds infrage kommt. In der von Politikerinnen und Politikern das Wort Demokratie nicht nur fortdauernd und ohne Bedeutung vor sich hergesagt, sondern auch tatsächlich verkörpert würde. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ich nicht "zu meiner eigenen Sicherheit" bewacht, sondern von den Regierenden stattdessen als mündig erachtet würde. In der ich eine Zigarette rauchen könnte, ohne dass man mich belehrt, dass es meinen Körper vergiftet. (Als wenn ich es nicht wüsste!)
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der der Begriff Korruption nicht verstanden würde, weil seine Erscheinung nicht existierte. In der eine Fremdsprache nicht länger als fremd bezeichnet würde. In der es einem gleichgeschlechtlichen Paar mit eingetragener Partnerschaft (die sich in Österreich übrigens in etwa sechzig politisch motivierten Punkten gegenüber einer Hetero-Ehe unterscheidet), erlaubt wäre, ein "fremdes" Kind zu adoptieren, für das es gerne Sorge trüge. In der dadurch das Wort Familie womöglich eine wertvolle Bereicherung erführe, nicht nur für die Inhalte der Lexika, sondern vor allem für die adoptierten Kinder.
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der die amtierenden Politikerinnen und Politiker, die sich für die Bereiche Kunst und Kultur zuständig fühlen, nicht Unsummen für die Ermöglichung einiger weniger Kunstwerke ausgäben, um sich vor ihnen mit einem Lächeln ablichten zu lassen, sondern stattdessen versuchten, die Künstlerinnen und Künstler ihres Landes durch gezielte Ankäufe und ausreichende Stipendien in einem breiteren Ausmaß zu unterstützen. In der jeder Bürgerin und jedem Bürger jedes Staates der freie Eintritt in alle Museen gewährt würde. In der das Bestreben, geraubte Kunstwerke zu restituieren, nicht nur auf die NS-Zeit beschränkt wäre, sondern sich auch auf völlig rechtmäßig erstandene Kunst- und Kulturschätze, wie z. B.: Montezumas Federkrone (sowie weitere abertausende "Objekte" ähnlicher Art - nichts anderes sind sie für uns -), ausdehnte.
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der jeder Mensch Wasser zu trinken und ausreichend zu essen hätte, um nicht (ver)hungern zu müssen. Und wenn ich schon einmal dabei bin: bitte schön für jeden Menschen auch ein Dach über dem Kopf, sofern sie oder er es wünschte. (Utopisch? Ganz bestimmt. Trotzdem!)
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der niemand für westliche Konzerne in maroden, asiatischen Fabrikhallen zu unmenschlichen, ja lebensbedrohlichen Bedingungen arbeiten müsste. In der jeder Mensch, egal in welchem Land, für seine Arbeit fair bezahlt würde. In der Menschen, wenn sie ihren Unmut äußerten, nicht mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken bekämpft würden, sondern ihnen zugehört würde.
Keine Befürchtung
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ich keine Befürchtungen haben müsste, am Ende des Monats genug Geld auf der Seite zu haben, um meine Miete bezahlen zu können. In der ein sogenannter Sozialstaat, anstatt Milliarden an Banken, die in einer Krise stecken, das Geld an Bedürftige verteilen würde, die in Krisen stecken. Und in der dieser Staat, anstatt über eineinhalb Milliarden Euro für den - von Lobbyisten eingefädelten und vermutlich mit Schmiergeld verbundenen - Kauf von Abfangjägern auszugeben, nicht zu sprechen von den zusätzlichen paar Millionen Euro jährlich für deren Erhaltung, doch besser die Steuergelder in ein bedingungsloses Grundeinkommen investierte, das, im Gegensatz zur Aufrüstung, den Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Landes keine vorgegaukelte, sondern eine wirkliche Sicherheit bieten würde. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der nicht immer alles so scheiß kompliziert wäre! In der ich nicht nur hie und da, sondern jederzeit ehrlich zu mir sein könnte. In der ich eine Verletzung nicht mit einem Lächeln überspielen würde. In der es mir etwas leichter fiele, einem Menschen Vertrauen zu schenken. Und in der ich in meiner menschlichen Entwicklung so weit wäre, dass ich nicht immer wieder einen geliebten Menschen, ohne es bewusst zu beabsichtigen, verletzen würde.
Nie wieder Moral im Mund
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der zumindest eine - meinetwegen sogar vom Staat bezahlte? - Stunde am Tag zur Verfügung stünde, um sich Gedanken über das machen zu können, was wir Leben nennen, und eine weitere dafür, um darüber nachdenken zu können, wie wir es zu führen wünschen. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der niemand per Gesetz getötet werden dürfte. In der die Menschen die Obrigkeitshörigkeit infrage stellten. Und in der sie Abstand nähmen von Politikerinnen und Politikern, die ihre Versprechen nicht halten. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der eine Handvoll Erde mehr wert wäre als ein Klumpen Gold. In der die Bestrebungen der Staaten weg von einer gezielten Ausbildung und wieder hin zu einer breiten Bildung führen würden.
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der ein sogenannter säkularisierter Staat nicht nur vorgäbe, säkularisiert zu sein, sondern es auch tatsächlich wäre. In der niemand das Recht hätte, sich Vertreter Gottes zu nennen, und dafür jede und jeder Einzelne (Achtung Pathos!) die Freiheit hätte, sich Vertreterin oder Vertreter der Menschlichkeit zu nennen. In der sich Priester dafür entschuldigten, dass sie Kinder sexuell missbraucht haben. In der sich die von Priestern sexuell Missbrauchten gemeinsam auf die Straße begäben, um ein für alle Mal zu verkünden, dass die Kirchenvertreter dieser Welt nie, aber auch niemals wieder sich trauen sollten, das Wort Moral in den Mund zu nehmen. In der die Menschen schließlich den Mut hätten, ihren Glauben - an wen oder was auch immer er gerichtet sein mag - einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, um herausfinden zu können, ob dieser einst blind übernommen wurde und daher verworfen werden kann. Ich wünschte, ich lebte in einer Welt. In einer Welt, in der ich diesen Text nicht hätte schreiben müssen.
Mit oder ohne Pathos. (Norbert Kröll, Album, DER STANDARD, 17./18.8.2013)