Laurent Millischer: Besonders in Wahlkampfzeiten ist es wichtig zu verstehen, was Umfragen aussagen - das ist meist weniger, als sie von sich behaupten.

Foto: derstandard.at

Die aktuelle politische Stimmung am 19. August - Details zur Grafik und wie sie gelesen werden muss finden Sie im ersten Blogeintrag.

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Wenn ich tatsächlich mit dem Wahlumfragen-Nihilisten einverstanden bin, wie ich im letzten Eintrag behaupte, und auch glaube, Umfragen seien nicht sehr aussagekräftig und ihre vereinfachende Darstellung schadet der politischen Debatte, warum gibt es dann diesen Blog? Warum sollte man das Phänomen Wahlumfragen nicht einfach ignorieren?

Der Grund liegt in der komplexen Wechselwirkung zwischen "öffentlicher Meinung" (*) und Wahlumfragen. Letztere sind nämlich, anders als oft angenommen, keine passiven Momentaufnahmen des Wählerwillen, sondern beeinflussen ihn nicht unwesentlich.

Wenn Sie wie ich zu der Gattung der strategischen Wähler gehören, das heißt zu denjenigen, die ihre Wahlentscheidung nicht ausschließlich von ihren Ideen abhängig machen, sondern auch von der Wahrscheinlichkeit, dass diese nach der Wahl umgesetzt werden, dann werden Umfrageergebnisse in ihrer eigene Entscheidung bereits eingeflossen sein.

Kleine Parteien

Stellen wir uns vor, es gäbe eine kleine Partei, deren Programm ihren politischen Überzeugungen auf Punkt und Beistrich genau entspricht, und deren Spitzenkandidatin charismatisch, seriös und humorvoll ist. Käme diese Partei in den meisten veröffentlichten Umfragen nicht vor und in allen anderen auf höchstens zwei Prozent, würden Sie an ihrem Einzug in den Nationalrat zu zweifeln beginnen. So mancher Wähler würde sich an Ihrer Stelle am Wahltag für eine Partei entscheiden, die bestimmt im Parlament vertreten sein wird, auch wenn sie Ihre Ideen nicht ganz so überzeugend vertritt. Und Sie möglicherweise auch.

Stellen wir uns weiters vor, die von Ihnen bevorzugte Partei hat im Wahlkampf eine Koalition mit einer Partei, die Sie verabscheuen, nicht ausgeschlossen, und die Umfragen geben den beiden Parteien gemeinsam eine knappe Mehrheit. Sie könnten sich dazu entschließen, für Ihre zweitliebste Partei zu wählen (insofern es eine solche gibt), um die von Ihnen gefürchtete Koalition zu verhindern.

In beiden Fällen hat eine von Wahlumfragen abgeleitete Erkenntnis Ihre Wahlentscheidung bestimmt. Würde sich herausstellen, dass diese Umfragen ungenau, schlampig oder gar manipuliert waren, würden Sie sich zu Recht betrogen fühlen.

Der "Mitläufer-Effekt"

In der Literatur wird auch der sogenannte "Mitläufer-Effekt" beschrieben: Das gute Abschneiden einer Partei in Umfragen verleiht ihr, so scheint es, das Image eines Gewinners, die positive Stimmung wirkt ansteckend. Umgekehrt entscheiden sich manche Wähler aus Mitleid für eine Partei, die in den Umfragen absackt.

Den genauen Einfluss der Umfragen auf das Wahlergebnis zu messen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Tatsache, dass es ihn gibt, verpflichtet uns jedoch dazu, den Informationsgehalt der veröffentlichten Umfragen kritisch zu hinterfragen. Statistische Methoden erweisen sich dabei als äußerst hilfreich. Besonders in Wahlkampfzeiten ist es wichtig, zu verstehen, was Umfragen aussagen - das ist meist weniger, als sie von sich behaupten.

Die Genauigkeit einer Umfrage kann mit der sogenannten "Schwankungsbreite" gemessen werden. Mehr dazu im nächsten Beitrag. (Laurent Millischer, derStandard.at, 19.8.2013)

(*) Das Konzept der "öffentlichen Meinung" ist irreführend. Gibt es EINE MEINUNG der österreichischen Öffentlichkeit? Oder doch große Unterschiede zwischen jenen, deren Überzeugungen in Stein gemeißelt sind, und jenen, denen das politische Geschehen gleichgültig ist? Auf "wahlfang.at" bevorzugen wir deshalb die Worte "politische Stimmung" und meinen damit das Ergebnis einer hypothetischen Nationalratswahl.