Neue Romane von Chico Buarque (geb. 1944 in Rio de Janeiro) ...

Foto: Bel Pedrosa / S. Fischer Verlag

... und Daniel Galera (geb. 1979 in São Paulo).

Foto: Raul Krebs / Suhrkamp Verlag

Wien - "Ist nicht unser Wachen ein hellerer Traum?", fragt sich Robespierre in Büchners Dantons Tod. "Sind wir nicht Nachtwandler? Ist nicht unser Handeln wie das im Traum, nur deutlicher, bestimmter, durchgeführter?" In die Frage nach der dunklen Welt der Träume ragt das Unterbewusste und Unkontrollierbare, heller wird die Landschaft, wenn wir unseren Willen dagegenstellen. Büchners Robespierre, ein tugendhafter und deshalb ein wenig anämischer Revolutionär sieht sich plötzlich eingenommen von ähnlichem Fatalismus, den sein alter Freund und Gegenspieler Danton längst auslebt: "Nicht wir machen die Revolution, die Revolution macht uns."

Das Schicksal, die Umstände, der Determinismus, die jene zarte Flamme menschlichen Willens bedrohen, sind die - unterschiedlich an der literarischen Oberfläche auftauchende - Grundströmung zweier brasilianischer Familienromane. Vergossene Milch von Chico Buarque ist die Saga einer jener Familien, deren Stammbaum sich wie die Straßenpläne von Rio de Janeiro oder São Paulo lesen, und zugleich ein steter Weg in Verfall und Armut.

Weniger ausgreifend ist Daniel Galeras Flut. Der namenlose Protagonist begibt sich auf die Suche nach Sinn und Vorfahren im südlichen Bundesstaat Santa Catarina. Beide Romane erzählen Geschichten der schwierigen Umstände einer Gesellschaft, in der Korruption und Gewalt an der Tagesordnung sind und der Staat oft abwesend erscheint.

"Wenn ich hier rauskomme, heiraten wir auf der Fazenda, dem Ort meiner glücklichen Kindheit, da draußen am Fuß der Berge. Sie werden das Kleid und den Schleier meiner Mutter tragen, und das sage ich nicht, weil ich sentimental wäre, auch nicht wegen des Morphins. Dann bekommen Sie Spitzentischwäsche, die Kristallgläser, das Geschirr, den Schmuck und den Namen meiner Familie."

Der bekannte Musiker und Schriftsteller Chico Buarque, mit vollem Namen Francisco Buarque de Hollanda, Sohn des Bildungsbürgertums von Rio de Janeiro, entwirft das Panorama Brasiliens von den Wurzeln der portugiesischen Kolonialisierung und dem Königreich her bis zur Gegenwart und hält sich dabei dicht an das brasilianische Sprichwort: "Vater reich, Sohn adelig, Enkel arm." Fazenda, Tischwäsche, Schmuck und schließlich der einst strahlende Name, den der Erzähler hier einer Krankenschwester verspricht, sind längst nur noch Schäume eines Nachtwandlers.

Der Monolog des bettlägerigen Eulálio Montenegro d'Assmupção, geboren 1907, verwitwet, Vater, Großvater und Urgroßvater, richtet sich an jene Krankenschwestern, die ihn pflegen, die Tochter, die selten zu Besuch kommt und oft an sich selbst. Eine traurige Rede, in der sich ein Leben zusammenfasst, das allen Anlass zu Sentimentalität hat, das sich, am Ende angekommen, gegen das Fortschreiten der Zeit wehren will. Denn diese hat es nicht gut gemeint mit Familie d'Assmupção, leise klingelt jenes Talent, seine eigene Situation immer weiter zu verschlimmern, durch, das sich tragisch mit der Historie verkettet.

Buarques Roman ist eine pessimistische Revision der brasilianischen Geschichte, ein kleiner, leiser Roman, in dem der Niedergang dem starrsinnigen Glauben an die Kraft aus früheren Privilegien gegenübersteht. Diese Vorrechte des Standes werden von der korrupten Gegenwart vernichtet, wobei oft nicht mehr zu klären ist, was Traum und Wirklichkeit ist.

Daniel Galeras Flut hingegen ist nicht klein, nicht unbedingt leise und selten elegant. Vielmehr zerfließt der Roman in alle Richtungen: Nach dem Freitod des Vaters macht sich der namenlose Held auf, der Geschichte des malträtierten Großvaters nachzuforschen. Dabei trifft er in Garopaba, einer Küstenstadt Santa Catarinas, auf einen Mythos: Sein hitzköpfiger Ahn, angeblich während eines Volksfestes von einem Kollektiv ermordet, ist der totgeschwiegene Schrecken in der Geschichte dieses Ortes. Der dem Großpapa aus dem Gesicht geschnittene Namenlose weckt jedoch Erinnerungen.

Fremd in der Welt

Stückweise verstehen wir, dass sich Galeras Hauptfigur, Extriathlet und Schwimmtrainer, befunden hat, dass das eigene Tun nichtig vor dem Schicksal stehe. Deshalb hat er sich dem Sport zugewandt, da "das dauernde Gefühl, ein Mensch zu sein, durch die extreme körperliche Anstrengung und die Verwandlung seiner Gedanken in Schritte und Schwimmzüge, in Lunge und Herz, ganz von allein auflöst." Damit lässt der Autor seine Figur fremd erscheinen, in Garopaba und in der Welt. Zugleich ist jeder, der ihm begegnet immer auch ein Fremder, denn er kann sich keine Gesichter merken, muss sich ständig der Identität des Gegenübers versichern.

Einer seltsamen Person, deren Horizont sich rasch erschöpft, folgt der Leser durch eine Aneinanderreihung von Umständen, Begegnungen und Situationen. Dialoge sind entweder situativ gebunden oder nur dünner Schleier für die Gedanken des Autors. Und davon hat Galera, ein jüngerer Schriftsteller und Übersetzer, eine ganze Menge zu allerlei Themen. So handelt der Roman Fragen nach Religion, Sinn, Esoterik, die Lebenssituation der Fischer, allgegenwärtige Korruption und Gewalt ab, Themen, die dem Protagonisten in episodenhafter Form und zugleich oft derart unvermittelt und langatmig begegnen, dass weniger literarische Figuren zum Leben erweckt werden, als eben das Bemühen des Autors sichtbar wird. Flut wirft deshalb weniger Fragen nach der Möglichkeit des Handelns im Angesicht der äußeren Umstände auf als solche nach einem strafferen Lektorat.

Chico Buarque: "Vergossene Milch", S. Fischer, Frankfurt 2013, € 20,60.

Daniel Galera: "Flut", Suhrkamp, Berlin 2013, € 23,60

(Lennart Laberenz, DER STANDARD, 20.8.2013)