Bei Polonias Heimspielen wird das Umfeld einem Erstligaspiel sehr ähnlich sein. Das Stadion steht im Warschauer Stadtteil Żoliborz, ganz in der Nähe der Altstadt.

Foto: Joanna Król

Der Bürgermeister der polnischen Kleinstadt Łomianki forderte die Bürger auf, die Geschäfte früher zu schließen und sicherheitshalber zu Hause zu bleiben. Denn an jenem Samstag im August empfing der lokale Fußballklub KS einen ganz besonderen Gast: Polonia Warschau. Ärger war vorprogrammiert.

Der Traditionsverein aus der Hauptstadt hatte nach einem finanziellen Zusammenbruch im Mai die Lizenz für die höchste Liga, die Extraklasa, verloren und wurde in eine fünftklassige Regionalstaffel der Provinz Masowien zurückgestuft. Im von Gewalt verseuchten polnischen Fußball hat das Tingeln Polonias über die grünen Wiesen der Provinz aber nicht nur sportliche Aspekte, es schafft auch ein veritables Sicherheitsproblem. Der Schluss lag nahe, dass Elemente aus der Hooligan-Szene Legia Warschaus, des Lokalrivalen und amtierenden polnischen Meisters, versuchen würden, die Gelegenheit zu Konfrontationen mit dem verhassten Polonia-Anhang zu nützen.

Am Anfang ein schnelles Ende

Natürlich bewahrheiteten sich die Befürchtungen. Ein massives Polizeiaufgebot in voller Rüstung musste bereits beim ersten Meisterschaftsspiel Polonias im neuen Milieu unter Einsatz von Reizgas das Schlimmste verhindern. Bizarre Szenen spielten sich auf dem Dorfplatz des KS Łomianki ab, ehe beim Stand von 0:2 abgebrochen wurde.

"Es war eine ausgezeichnete Gelegenheit, Rabatz zu machen", sagt Christopher Lash, Historiker, Blogger und Polonia-Sympathisant. Der polnische Fußballverband (PZPN) oder die regionalen Behörden müssten den gastgebenden Klubs finanzielle Unterstützung gewähren, um bei diesen Partien in Zukunft ein sicheres Umfeld garantieren zu können. Dass das passieren wird, glaube er allerdings nicht, so Lash. "Potenziell ein Albtraum."

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Die Geschichte des 1911 gegründeten Fußballklubs Polonia Warschau ist zwar - und das trotz zweier gewonnener Meisterschaften (1946, 2000) - gekennzeichnet durch ein Zurückgeworfenwerden, ein Doch nicht. So tief wie diesmal saß man aber noch nie in der Bredouille.

Große Momente in schlimmen Zeiten

Bis zum Anfang der 1950er-Jahre standen die "Czarne koszule" (Schwarzhemden) in der Gunst der hauptstädtischen Anhänger ganz oben. Die patriotisch verbrämbare Vereinshistorie hatte daran zweifellos ihren Anteil. Der Name als Referenz an den bis 1918 nicht existierenden polnischen Staat, die Farbe interpretierbar als Zeichen der Trauer angesichts des von Russland, Preußen und Österreich von den Landkarten getilgten Vaterlandes. (Die realistischere Variante dieses Mythos: Die ersten Zeugwarte hatten einfach keine anderen Leiberln auftreiben können.)

Während der apokalyptischen Jahre 1939 bis 1945, als die Nazi-Besatzer Warschau terrorisierten und organisierter Sport verboten war, nahm Polonia an der illegalen Stadtmeisterschaft teil - ein mutiger Akt des Widerstands. Während des Warschauer Aufstands 1944 kamen mehrere Spieler ums Leben.

Nach der Befreiung lag die Stadt in Trümmern, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Kaum eine lebende Seele war in den Ruinen noch aufzufinden. Überlegungen wurden angestellt, Warschau aufzugeben und die Hauptstadt nach Łódź zu verlegen. Es ist daher kaum zu überschätzen, was es für die Menschen bedeutete, als Polonia 1946 die erste polnische Nachkriegsmeisterschaft gewinnen konnte. Den ersten Titel für eine Warschauer Mannschaft überhaupt in einer bis dahin (und eigentlich bis heute) von Klubs aus Lemberg, Krakau oder den schlesischen Industriezentren dominierten Szenerie.

Der Weg in die Marginalisierung

Zu diesem Zeitpunkt schien der Weg Polonias in eine helle Zukunft vorgezeichnet, allein es sollte anders kommen. In der polnischen Volksrepublik wurden, wie im realsozialistischen Sport üblich, auch die Warschauer einem Institut ordentlicher Werktätigkeit zugeordnet. Dabei zog man jedoch eine Niete: Die polnische Eisenbahn war erstens ein eher ärmlicher Unterstützer und suchte sich zweitens alsbald einen anderen Verein als Premiumprodukt: Lech Posen. Es folgten 40 bittere Jahre in der zweiten und gar dritten Liga. Zeitweise mussten die Schwarzhemden, eigentlich ein Klub mit bürgerlich-intellektuellem Hintergrund (und insofern vielleicht so etwas wie die Warschauer Vienna), sogar Name und Farben aufgeben.

Als diese dunkle Phase 1993 zu Ende ging, hatte allerdings längst Legia die Rolle des Platzhirschen usurpiert. "Legias Präsenz in der Stadt ist überwältigend", erklärt Lash. "Du kannst nicht einfach mit einem Polonia-Schal herumlaufen. Zu gefährlich." Die extremeren Elemente aus der Legia-Anhängerschaft dominieren den öffentlichen Raum, das mache es schwer, sich zu Polonia zu bekennen. 

Ich, ich, ich: Die Ära Ego

Aus dem Nichts passierte dann im Morgengrauen des neuen Millenniums die zweite Meisterschaft. Es folgte die Ära ehrgeiziger Businessmen, geprägt durch deren Launen und einer Neigung zum Hire and Fire. Immer wieder war die Rede von Europa, doch obwohl manchmal zum Greifen nah: der Durchbruch gelang nicht. Józef Wojciechowski, der erste, hatte 2012 genug. Der zweite, Ireneusz Król, erwog erst eine Absiedlung nach Katowice - doch reformierte Verbandsstatuten erlaubten das nicht. Dann, im Frühjahr 2013, fuhr er die Polonia in ihrem 101. Jahr kaltlächelnd an die Wand.

Baumagnat Wojciechowski hatte einen überteuerten Kader hinterlassen, die besten Spieler verdienten um die 20.000 Euro im Monat. Für polnische Verhältnisse ein herausragendes Salär. Er verbrauchte Spieler und Trainer in schneller Folge, auch der ehemalige Barcelona-Profi José Mari Bakero durfte sich eine Zeit lang als Betreuer versuchen. Wojciechowski regierte wie ein Gutsherr, der seine Untergebenen nach schlechten Leistungen schon einmal zu Treppenläufen abkommandierte. Es war ein Egotrip.

Nach der Übernahme des Klubs durch Król setzte im winterlichen Transferfensters ein Exodus der besten Spieler ein - der neue Boss hatte die Gehaltszahlungen eingestellt. Relativ schnell wurde klar, dass der Klub auf den Abgrund zusteuerte. Am Ende weigerte sich Król sogar, die Kosten für die Stadion-Security zu übernehmen, erst Spenden aus der Anhängerschaft machten die Durchführung des Abschiedsspiels aus der Extraklasa möglich. Es wurde zu einer beeindruckenden Manifestation der Zuschauer für ihren Verein und gegen den Präsidenten.

Das Gute im Schlechten

Das neue Polonia baut auf der Nachwuchsabteilung des Vereins auf, die nicht Teil der zahlungsunfähigen Kapitalgesellschaft war, in der der Profibereich organisiert war. Damit wurde auch verhindert, völlig aus den Verbandsstrukturen herauszufallen. Eine Gruppe prominenter Unterstützer, darunter Namen wie der ehemalige polnische Teamchef Jerzy Engel und Ex-PZPN-Präsident Michał Listkiewicz, sowie die organisierten Fans versuchen nun gemeinsam, den Klub auf ein neues Fundament zu stellen. Zu tun ist noch genug, so fehlt weiterhin ein Sponsor.

Derzeit lebt Polonia von den Beiträgen der Anhänger, die für Tickets auch in der fünften Liga so viel bezahlen wie in der ersten. Eine drastische Senkung der Miete durch die Warschauer Stadtverwaltung ermöglicht den Schwarzhemden, wie es derzeit aussieht, den Verbleib in ihrem Stadion. Immerhin: Die Altlasten sind weg, es gibt trotz des Absturzes so etwas wie eine Aufbruchsstimmung, berichtet Lash. Viele Leute wollen mithelfen und realisieren erst jetzt ihre emotionale Verbundenheit mit dem Klub.

Auch eine sportliche Perspektive scheint gegeben. Die Chancen auf einen ersten Aufstieg stünden gut. Den aktuellen Kader schätzt Lash schon jetzt als reif für die nächsthöhere Stufe ein. Doch trotz seiner optimistischen Grundhaltung - sicher könne man keineswegs sein, hinsichtlich eines positiven Fortgangs der Polonia-Saga. Dafür gehe im polnischen Fußball zu viel Unwägbares vor. Und vieles davon hinter den Kulissen. (Michael Robausch, derStandard.at, 23.8.2013)