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Proteine "falten": Das klingt nicht nach einem Volkssport. Biochemiker beißen sich die Zähne an dieser komplexen Aufgabe aus, die letztlich Krebstherapien verbessern könnte. Computer brauchen dafür enorme Rechenleistungen. Um das in diesem Fall oft bessere menschliche Raumgefühl "anzuzapfen", hat David Baker von der University of Washington in Seattle gemeinsam mit Informatikern die Optimierung von Proteinen in ein 3-D-Puzzle verwandelt. Das Ergebnis heißt "Foldit", ein sogenanntes "Game with a purpose" und ein Klassiker in Sachen Crowdsourcing in der Wissenschaft, also das Auslagern von Forschungsaufgaben an eine Masse von Usern. Das Spiel, das 2008 entstand, spielten ein Jahr später bereits 100.000 Menschen weltweit. Talente kristallisierten sich heraus. Ein 13-Jähriger aus Virgina schien ein besonderes Gefühl für die Proteine zu haben. "Es sieht so einfach richtig aus", zitiert ihn das Online-Techmagazin Wired damals.

Dass sich Laien wissenschaftlich betätigen, ist nicht neu. Der "Christmas Bird Count" ist eines der schönsten Beispiele. Seit über 100 Jahren beteiligen sich alljährlich Hobby-Ornithologen an der nordamerikanischen Vogelzählung, um den Biologen Populationsdaten zu liefern. Im Jahr 1900 nahmen 27 Freiwillige teil, heute sind es zehntausende. Das Web verleiht der Einbindung von Laien in die Forschung aber neue Dimensionen. Damit geht auch ein neues Verständnis der Wissenschaft einher, die die Partizipation möglichst vieler Menschen in Forschungs- und Entwicklungsprozesse vorsieht - Stichwort Open Innovation. In einer digital vernetzten Menschheit könnte sich Crowdsourcing als selbstverständliche Form der Arbeitsteilung etablieren. Webdienste wie Amazon Mechanical Turk oder Crowdflower.com vergeben schon jetzt gegen Bezahlung Aufgaben an die Masse. Auch Sozialwissenschafter nutzten die Plattformen für bezahlte Umfragen.

Computerspielen für die Wissenschaft

Eine Plattform, die allein dem wissenschaftlichen Crowdsourcing dient, ist Zooniverse.org. Hier können Laien Zellgewebe für die Krebsforschung analysieren, Mondkrater zählen oder im "Galaxy Zoo" Galaxien kategorisieren. Oder man hilft, anhand von Schiffslogbüchern das Wetter im 19. Jahrhundert für die Klimaforschung zu rekonstruieren. 860.000 Menschen sind bereits dabei, den mühsamen Kleinkram zu erledigen. Je mehr Nutzer dieselbe Zuordnung wählen, desto höher die Wahrscheinlichkeit für richtige Ergebnisse.

Eine Reihe von Projekten weltweit versucht es Foldit gleichzutun und spielerisch Mehrwert für die Forschung zu generieren. "Artigo" der Uni München lässt Nutzer Kunstwerke fürs Archiv um die Wette beschlagworten. "Eyewire" des Massachusetts Institute of Technology (MIT) will User gar eine "Landkarte" des Gehirns erstellen lassen. Auch an heimischen Forschungsstätten gibt es ähnliche Versuche: Das Internationale Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg beschäftigt sich mit der Analyse von Landnutzung, um etwa zu eruieren, wie viel Anbaufläche für Biotreibstoff zur Verfügung steht. Bei maschineller Bilderkennung ist ein Drittel der Zuordnungen fehlerhaft, also bittet das IIASA auf geo-wiki.org die Web-Crowd, anhand von Satellitenbildern die Bodenbedeckung zu klassifizieren.

Michael Wimmer vom Institut für Computergraphik und Algorithmen der TU Wien hat mit seinem Team im Projekt Landspotting.org auf Basis der IIASA-Initiative mehrere Computerspiele entworfen, um diese Aufgabe einem breiteren Nutzerkreis schmackhaft zu machen. Dabei wurde das Problem etwa in ein "Tower Defense"-Spielprinzip verbaut, bei dem man Land schnell als Wald oder Wüste kategorisieren muss, um eine Stadt verteidigen zu können. Zugänglichkeit sei das oberste Ziel. Und man müsse das Spiel so designen, dass man weiterkommt, wenn gute Arbeit geleistet wird - also wenn etwa die Angaben mehrerer User übereinstimmen. Allerdings läuft man auch Gefahr, dass "etwas Richtiges bestraft wird, wenn zwei einen Blödsinn eingeben" sagt Wimmer. "Das Problem ist nicht trivial zu lösen." Die Spiele können die Daten aber verbessern: "Die Ergebnisse machen Sinn."

Der Intelligenz der Masse Struktur geben

Auch der Physiker Stefan Thurner vom Institut für Wissenschaft komplexer Systeme der Med-Uni Wien versucht in einem Projekt die Philosophie von Foldit weiterzuführen. Proteinstrukturen werden dabei als Netzwerke dargestellt. User könnten in Zukunft vor die Aufgabe gestellt werden, ein Netzwerk so zu verändern, dass es seinen Krebs-Status verliert. "Ist das Konzept ähnlich erfolgreich wie Foldit, hätten wir einen hundertfachen Output." Crowdsourcing funktioniere, wenn wissenschaftliches Wissen "so elegant in eine Anwendung transferiert werden kann, dass die Nutzer es nicht verstehen müssen", betont Thurner. "In Foldit steckten 50 Jahre Molekularbiologie. Die Leute brauchen die Modelle aber nur mehr am Bildschirm zu drehen." Es gibt aber auch Grenzen: "In der Wissenschaft ist es oft so, dass ein Mensch ein Problem durchdringen muss. Das ist meist einsam. Das wird die Crowd nie machen können."

Der Intelligenz der Masse muss eine Struktur gegeben werden, was das Beispiel der Schachpartie von Weltmeister Garri Kasparow gegen ein Internetkollektiv im Jahr 1999 nahelegt. Die weltweit knapp 60.000 Spieler in dieser als "Kasparow vs. the world" in die Annalen eingegangene Partie konnten dem Weltmeister nur auf Augenhöhe begegnen, weil sie sich in Spezialistenteams organisierten, so Thurner. Trotz vieler Streits in den Foren kristallisierten sich Einzelne heraus, die die Analyse koordinierten. Kasparow gewann nach langem Kampf, gab aber zu, die Genese der Züge in den Foren mitgelesen zu haben. Die Crowd kann im Netz aber auch selbst etwas lernen. Thurner träumt von einer "virtuellen Universität": eine digitale Multiplayer-Welt, "die vielleicht so aussieht wie bei Harry Potter" und Lernaufgaben bereitstelle. "Hinter diesem Problemprovider stecken dann echte Lehrer", sagt Thurner, "die ein Problem in Quantenmechanik als Quest bereitstellen."

Einer der "Urväter" in Sachen Crowdsoucing ist der 1979 in Guatemala geborene Luis von Ahn. Der Informatiker an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh war an der Etablierung von "Recaptcha" beteiligt. Captcha heißt die Methode der verzerrten Zeichen oder Wörter, die Nutzer erkennen müssen, um sich als Menschen und nicht als maschinell generierte Anfrage zu authentifizieren. Recaptcha verwendet diese Abfragen, um alte, von Computern nicht lesbare Bücher zu digitalisieren. Pro Abfrage sind es nur ein oder zwei Wörter. 750 Millionen Menschen, knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung, digitalisieren laut von Ahn auf diese Art aber im Jahr etwa 2,5 Millionen Bücher.

Der Bau von Pyramiden, der Panamakanal oder die Mondlandung benötigten jeweils etwa die Zusammenarbeit von 100.000 Menschen, erklärt von Ahn. "Was können wir also mit 100 Millionen tun?" Eine Antwort auf die Frage ist "Duolingo". Auf dem Sprachenportal können Nutzer eine ganze Reihe von Sprachen von Deutsch bis Portugiesisch lernen. Ihre Übungen haben aber auch noch einen Zusatznutzen: Sie übersetzen "das Internet", zum Beispiel Wikipedia, in die jeweiligen Sprachen. Allein mit der Intelligenz der Masse. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, INNO, 22.8.2013)