Eine Leserin schreibt:
Bald ist wieder Schule. Meine Tochter ist elf. Das Erste, was sie dort hören wird, sind Sätze wie: "Du bist eine Hure", "Du bist hässlich" - so oder so ähnlich. Wahrscheinlich ist sie nicht die Einzige, die das zu hören bekommt. Meist sind es Mädchen, die leiden, und Buben, die das sagen. Der traurige Aspekt daran: Die Mädchen wehren sich nicht gemeinsam, sondern tun sich mit den Buben zusammen, um gegen jene in der Schusslinie herzuziehen. Weil sie sich besser fühlen, wenn sie jemanden mobben, anstatt gemobbt zu werden - zumindest für kurze Zeit.

Das macht mich sowohl als Mutter wie auch als Frau wütend. Meiner Tochter sage ich, dass sie sich nicht auf diese Ausdrucksweisen einlassen soll. Ich sage ihr auch, dass sie sich wehren kann. Der Lehrer hat mit den Eltern dieser Kinder bereits gesprochen, bislang ohne Erfolg. Diese Eltern kommen nie zu Elternabenden, und es ist schwierig, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Wenn wir diese Situation im Büro hätten, bin ich mir sicher, dass wir umgehend ein Treffen mit allen Involvierten einberufen würden. Es gibt Gesetze, die Erwachsene vor dieser Art des Missbrauchs schützen. Kinder müssen diese Gesetzlosigkeit ertragen. Ich bin beunruhigt, dass diese Umgangsformen einen Einfluss auf den Selbstwert meiner Tochter haben.

Jesper Juul antwortet:
Immer, wenn ich einen Vortrag halte, gibt es Eltern, die mir Ähnliches berichten. Das Traurige ist, dass diese Eltern darüber nicht sprechen möchten, wenn andere Eltern zuhören. Es scheint, als ob die soziale Scham ihrer Kinder auf sie als Eltern abfärbt. Es zeigt mir auch, auf welche Probleme Eltern stoßen, wenn sie die Bürokratie einer Schule herausfordern. Die typische Antwort von jenen innerhalb des Unterrichtssystems ist: "Kinder sind so!" oder "Buben sind halt Buben!" Ohne Zweifel ist das eine Möglichkeit für Lehrer und Direktoren, sich von dieser Art Problemen zu distanzieren.

Ähnliche Phänomene gibt es auch unter Erwachsenen. Sie sind nur besser darin, ihr unangemessenes Verhalten zu überdecken. Zudem sind Erwachsene, das stimmt, durch eine Palette an Gesetzen geschützt - allerdings nicht präventiv, sie bieten nur den Opfern im Nachhinein etwas Gerechtigkeit. Leider gilt das nicht für Schüler! Sie finden sich ohne legale Rechte und ohne Schutz, wenn es um die Qualität ihrer Lehrer geht, ihre mentale und psychische Arbeitsumgebung und die Werkzeuge/Lernmaterialien, mit denen sie arbeiten. Es gibt nur zwei Dinge, die für Schüler gelten: Sie haben die Verpflichtung, im Unterrichtssystem zu sein. Und sie haben an der Schule zu erscheinen, egal was dort passiert.

Das ist eine merkwürdige Art, Kinder in einer demokratischen Welt ins Leben einzuführen. Die für das Schulsystem Verantwortlichen haben Entscheidungen getroffen, ohne über Kinder nachzudenken. Sie kommen damit durch, weil die Angst vor dem Versagen und die Machtlosigkeit innerhalb des Systems schon in den Eltern stecken - so tief, dass sie sich nicht auflehnen.

Es gibt etwas, was Sie tun können. Mobilisieren Sie die Eltern. Aber, und das ist wichtig, greifen Sie nicht auf die traditionelle Methode des Beschuldigens zurück. Das macht Dinge nur schlimmer, denn die Eltern werden in den allermeisten Fällen ihre Kinder verteidigen, und diese Kinder werden sich rächen. Dadurch wird sich die Situation Ihrer Tochter verschlimmern. Wenn das passiert, dann übernehmen die Kinder die Macht. Das hilft keinem.

Wenn das Mobilisieren der Eltern förderlich sein soll - und das wird es -, dann müssen die Lehrer einsehen, dass es sich um ein Managementproblem handelt. Der Leiteroder die Leiterin der Schule hat ein Problem. Niemand soll beschuldigt werden, aber Eltern und Lehrer/Lehrerinnen tragen Verantwortung für ein optimales soziales Umfeld in der Klasse. Das geschieht nicht durch Anschuldigungen der Schülerinnen und Schüler. Es braucht jemand Außenstehenden, der mit Erfahrung einen Veränderungsprozess durchführen kann.

Das hört sich nach einem mühsamen Projekt an, aber der Nutzen ist groß. Ich habe beobachtet, dass Eltern, die sich nie involvieren, oft von ihren Kindern dazu gezwungen werden. Kinder wie Eltern wollen nicht belehrt oder beschuldigt werden, aber jeder wird positiv reagieren, der Vertrauen in die Verantwortlichen gewinnt. Ich spreche nicht davon, dass unsere Kinder in flauschige Baumwolle packen sollen und jedes Mal in Panik geraten, wenn ihnen etwas wehtut. Ohne persönlichen Schmerz entsteht keine moralische oder gesellschaftliche Entwicklung.

Sie machen das großartig mit Ihrer Tochter. Jedes Mal, wenn sie beschimpft wird, müssen Sie mit ihr darüber sprechen. Sagen Sie ihr, dass es das ist, was einige Buben sagen - aber was denkt sie? Sie können ihr auch vorschlagen, Folgendes zu dem Schikanierer zu sagen: "Ich weiß, dass das, was du sagst, etwas ist, was Buben sagen, wenn Sie sich nicht groß genug fühlen. Du kannst gerne wieder kommen und mit mir sprechen, sobald du dich groß genug fühlst." Das funktioniert aber nur, wenn sie einen Sinn für Humor hat und darauf vorbereitet ist, dem Teufel direkt in die Augen zu sehen. (Jesper Juul, derStandard.at, 25.8.2013)