Eine Idylle mit Ablaufdatum: Alexander Lernet-Holenia und Lotte Sweceny auf Lernets Ruderboot auf dem Wolfgangsee, im Vordergrund Lernets Dackel Waldi.

Foto: Alexander Dreihann-Holenia / Kitzbühel

Zahlreiche Messerstiche treffen 1911 in der Hagenbund-Ausstellung Gesicht und Körper des fünfjährigen Mädchens und ihres Bruders. "Wüste Erotik" ortet wohl nicht nur der Attentäter in dem Doppelbildnis, das das zu diesem Zeitpunkt 23-jährige Enfant terrible Oskar Kokoschka 1909 von den beiden Kindern des Wiener Verlegers Dr. Richard Stein angefertigt hat. Heute hängt Spielende Kinder, längst kanonisch, im Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg.

Das Mädchen Maria Charlotte, kurz "Lotte", blickt dem Betrachter aus blauen Augen neugierig, ja fast herausfordernd ins Gesicht, ihr Bruder Walter hält das seine abgewandt. Der Porträtist schien geahnt zu haben, welche Energie, welcher Widerspruchsgeist in seinem kleinen Modell steckte. Lotte Steins kurzes Leben war das einer Bohèmienne - gegen den Widerstand ihrer Familie, ihrer Gesellschaftsschicht und wohl auch gegen jenen ihrer Lebenspartner. Wenig war bisher über sie bekannt; lediglich auf der Leinwand Kokoschkas hat sie Spuren hinterlassen - und auf knapp zwei Seiten von Veruntreute Geschichte, der Chronik der Wiener Salons und Literatencafés der Zwischenkriegszeit, die ihr Freund, der Publizist Milan Dubrovic 1985 veröffentlichte.

Das Kokoschka-Bild traf auch den Geschmack des Auftraggebers nicht so recht. Richard Stein, Jurist, Dragoneroffizier der Reserve und geschäftsführender Gesellschafter der Manz'schen k. u. k. Hof-Verlags- und Universitätsbuchhandlung, hatte sich zu diesem Auftrag wohl von Adolf Loos überreden lassen. Loos, der ein Portal für die Buchhandlung Manz plante (und 1912 ausführte), pflegte seinem Schützling Kokoschka Aufträge aus dem Kreis der eigenen Kunden zu verschaffen. Als drittgeborenes Kind einer vermögenden und angesehenen Verlegerfamilie ist Lotte Stein der Verpflichtung, im Familienunternehmen zu arbeiten, entbunden; nicht zuletzt auch, weil sie eine Frau ist. Das 1904 geborene Mädchen genießt eine gute Ausbildung; im Haus der Eltern trifft sie auf zahlreiche Exponenten des Wiener Geisteslebens. Lottes Onkel Erwin Stein ist Schüler Arnold Schönbergs, Tante Helene Winger-Stein ist eine dem Fauvismus nahestehende Malerin - kurz, man zählte zum assimilierten jüdischen Großbürgertum.

Gravierende Veränderungen

An Neigungen und Begabungen herrscht bei Lotte kein Mangel: Sie spricht mehrere Sprachen, ist literarisch begabt und eine fesselnde Gesprächspartnerin. Fotos zeigen eine selbstbewusste attraktive blonde Frau von schmalem Wuchs und offenen Gesichtszügen. 1925 heiratet Lotte Stein dann mit 21 Jahren - gegen den Willen ihres Vaters - den Industriellensohn und Ingenieur Otto Carl Adolf Sweceny, genannt "O. C." "Die Leute mögen nicht, dass eine Frau so lebt, wie ich es tue", so viel ist Lotte bewusst, und der Widerstand ihres Vaters ist bestimmt nicht der einzige, den es zu überwinden gilt. Das kinderlose Paar übersiedelt 1934 in eine moderne Wohnung im neuen Hochhaus in der Herrengasse, dem ersten der Stadt. In der Gegend um Michaelerplatz und Herrengasse (vor allem im Café Herrenhof) tummelt sich die Wiener Intelligenz - bis 1938, als der "Anschluss" an Nazideutschland viele Juden und Regimegegner zur Emigration zwingt.

Auch für die Stein-Geschwister bringt die neue politische Lage gravierende Veränderungen. Sie gehören einer Bevölkerungsschicht an, deren Mitglieder ihre jüdische Herkunft bisher höchstens zur Kenntnis genommen haben, wenn sie - wie dies nun verstärkt der Fall war - von anderen darauf hingewiesen wurden. Religion und Bräuche der Vorfahren werden in der Familie Stein längst nicht mehr praktiziert, als Protestanten helvetischen Bekenntnisses feiert man die Feste des christlichen Kalenders.

Die "Rassengesetze" der Nazis machen Lotte und ihre Geschwister zu "Mischlingen 1. Grades". Als solche müssen Robert und Walter Stein ihre berufliche Tätigkeit niederlegen. Auch Lotte Sweceny geht im August 1939 ihrer Firmenanteile verlustig. Noch 1938 hatten Lotte und O. C. Sweceny sowie Lottes Bruder Walter Stein von Anna Freud, die nach England emigrieren musste, ein Bauernhaus in Hochrotherd gekauft. Der Architekt Hans A. Vetter, ein enger Freund des Ehepaars Sweceny, vermittelt den Kauf; O. C. Sweceny ist der "arische" Strohmann bei der Transaktion. Man nutzt das Anwesen im Wienerwald vor allem im Sommer zum Sonnenbaden, Lesen und zwanglosen Beisammensein. Es finden sich dort zahlreiche Intellektuelle in dem "uralten behäbigen Bauernhaus" ein, von dem Dubrovic schreibt, es sei "während der nationalsozialistischen Ära (...) Refugium eines oppositionell gesinnten Freundeskreises" gewesen - es dürfte sich allerdings eher um einen Schmelztiegel von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, weltanschaulich geeint durch ihre Abneigung gegen die neuen Machthaber, gehandelt haben.

Dem Kreis von Hochrotherd gehört auch Alexander Lernet-Holenia an. Lotte Sweceny hat ihn um 1938 kennengelernt und einen Briefwechsel mit dem meist in Sankt Wolfgang lebenden Schriftsteller begonnen. Lernet-Holenia ist 41 Jahre alt und ein gefeierter und vielgelesener Autor. Hinter ihm liegt die Teilnahme am Ersten Weltkrieg als Dragonerfähnrich, 1926 hat er für seine Lustspiele Ollapotrida und Österreichische Komödie den renommierten Kleistpreis erhalten. Rilke und Hofmannsthal haben den jungen Mann gelobt. Auch das Regime, das in Deutschland seit 1933 an der Macht ist, ist auf den Autor aufmerksam geworden und hat seinen Roman Jo und der Herr zu Pferde am 1. Mai 1933 auf die erste "Schwarze Liste (Schöne Literatur)" gesetzt: "für nationalsozialistisches Publikum untragbar".

Der Briefwechsel von Lernet und Lotte nimmt im August 1938 seinen Auftakt. "Mich interessiert alles, was Sie betrifft", schreibt Lotte, fasziniert von der Aussicht, einem Dichter in die Karten schauen zu können. Dieser genießt das Interesse der schönen, rund sieben Jahre jüngeren Frau sichtlich. Man trifft sich in Wien, im Salzkammergut und fasst den Plan zu einer gemeinsamen Nordamerika-Karibik-Kreuzfahrt auf dem KdF-Schiff MS Milwaukee. Nach rund sechs Wochen kehren die beiden im Februar in die Alte Welt - die nun, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, endgültig ihr Gesicht verändert hat - zurück. Ironie der Geschichte: die "Halbjüdin" und der Wehrmachtsoffizier werden just auf einem KdF-Schiff, umgeben von Nazispitzeln und heimlichen Emigranten, zum Liebespaar.

Reale Vorbilder

Nach der Rückkehr verbringen sie viel Zeit miteinander. Ende August geht Lotte Sweceny auf eine Bulgarienreise. Ein Brief an Lernet trifft diesen jedoch nicht mehr an: Die Wehrmacht marschiert unter dem Codewort "Fall Weiß" auf die polnische Grenze zu - und mit ihr Alexander Lernet-Holenia in der 7. Schwadron des 10. Kavallerie-Schützen-Regiments. Die junge Beziehung ist in die Mühlen der Weltpolitik geraten. Bereits am 2. September, am zweiten Tag des Überfalls, wird Lernet an der rechten Hand verwundet - nach dem Ende des "Polenfeldzugs" wird Lernet keinen einzigen Tag mehr an der Front verbringen.

An Lotte schreibt er aus der Etappe, er bittet um die Zusendung von Kleidung, Lebensmitteln, Zigaretten. Sofort nach seiner Rückkehr arbeitet er unter Hochtouren an einem Manuskript mit dem Titel Die blaue Stunde. Der darin vorkommende österreichische Offizier namens Wallmoden, der unwillig am "Polenfeldzug" teilnehmen muss, kurz nachdem er eine faszinierende Frau namens Cuba kennenlernte, hat, wie Cuba, unübersehbar reale Vorbilder in Lernet bzw. Lotte.

Den "Feldzug" schildert Lernet in diesem Buch unverhohlen als das, was er war: ein Überfall auf ein unvorbereitetes Land. Er stützt sich dabei auf seine eigenen Tagebuchaufzeichnungen. Mars im Widder, so der endgültige Titel, gilt heute vielen Interpreten als der einzige österreichische Widerstandsroman, der während des "Dritten Reichs" erschien - allerdings nur in Fortsetzungen in der mondänen Zeitschrift Die Dame: Die Buchfassung wird von Goebbels persönlich am Tag der Auslieferung konfisziert (und erscheint erst 1947 in Stockholm).

Nach der Niederschrift stürzt Lernet wie so oft in seinem Leben in eine Krise: Er hat genug vom Publizieren in Zeitschriften und fürs Theater; zugleich muss er Geld verdienen, um seinen aufwändigen Lebensstil aufrechterhalten zu können. Er ist vollauf damit beschäftigt, die ursprünglich durch seine Verwundung bedingte Beurlaubung vom Kriegsdienst immer wieder zu verlängern. Für Lotte bleibt nicht viel Zeit. Zwischen dem Paar treten die ersten Spannungen auf. Da geschieht etwas, was für die Beziehung beider und für Lernets weiteres Leben von großer Tragweite ist: Lernet wird nach Berlin abkommandiert, als "Leiter des 'Entwicklungsstabs der Heeresfilmstelle'".

Wie ging es zu, dass ein "für ein nationalsozialistisches Publikum untragbarer" Autor, dessen Roman gerade von Goebbels persönlich aus dem Verkehr gezogen worden war, auf einen nicht eben unwichtigen Propagandaposten des NS-Regimes abkommandiert wurde? (Er schrieb dort übrigens u. a. das Drehbuch für Die große Liebe, in dem Zarah Leander das Deutsche Reich mit Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n und Davon geht die Welt nicht unter bei Laune zu halten versuchte.)

Die Briefe an Lotte Sweceny legen nahe, dass es sich um eine klassische Seilschaft handelte. Lernet wurde bei der Heeresfilmstelle vom Freund eines Freundes, dem Major Erwin Wratschko, protegiert. Er hat feste Dienstzeiten, eine Dienststelle am anderen Ende der Stadt, pendelt häufig nach Wien und Sankt Wolfgang und findet keine Ruhe und keine Zeit für seine eigentliche Arbeit, das Schreiben. Sehr bald setzt er alles daran, wieder aus Berlin wegzukommen. Filmgesellschaften spielen dabei eine Rolle; ein Projekt mit dem faschistischen Theaterautor Giovacchino Forzano, das sogar Mussolini vorgestellt wird; auch Karl-Heinrich Waggerl, der Lernet für ein Filmarchiv in Salzburg abziehen will. Lernet reist nach München, nach Italien, wieder zurück nach Berlin und immer wieder nach Sankt Wolfgang. Die Beziehung zu Lotte leidet unter der geografischen - und emotionalen - Distanz spürbar.

Am 18. Jänner 1943 erfolgt die lang ersehnte "Unabkömmlichstellung". Da sind Lernet und Lotte bereits kein Paar mehr. Die langen Phasen der Trennung, Lernets Unstetigkeit in Liebesdingen, vielleicht auch die Erkenntnis Lottes, dass sie eine Rolle eingenommen hat, die sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen - nämlich "Hofnarr" eines (Dichter-)"Fürsten", wie sie es selbst einmal halb ironisch nennt, zu sein -, führen noch 1942 das Ende der Beziehung herbei. Lotte Sweceny hat - ob mit oder gegen ihren Willen - tiefe Spuren im Werk Lernet-Holenias hinterlassen. Mars im Widder ist mitunter eine Art Schlüsselroman mit ihr und ihrem Freundeskreis als Protagonisten; die Arbeit am Roman Beide Sizilien und der Gedichtsammlung Die Trophae - dieses ihm "liebste" seiner Werke widmete Lernet ihr - wäre ohne ihre Unterstützung sicher anders verlaufen.

Nach Kriegsende kehrt Lernet nach Sankt Wolfgang zurück, wo er einige Monate später heiratet. Kurz darauf erfolgt die Scheidung Lotte Swecenys von ihrem Mann. In den darauffolgenden Jahren unternimmt sie Studienreisen, lernt Sprachen, korrespondiert mit alten und neuen Freunden und ist in ihrer geliebten Wohnung im Hochhaus, ihrem "Turm", wie sie es häufig nennt, viel mit sich allein. Maria Charlotte Sweceny stirbt am 15. März 1956 an Herzschwäche und wird im Familiengrab auf dem Döblinger Friedhof in Wien beigesetzt. Eine der Blumenspenden auf dem Grab kommt von Alexander Lernet-Holenia.      (Christopher Dietz, Album, DER STANDARD, 24./25.8.2013)