Große politische Rhetorik steht im deutschsprachigen Raum zumindest seit Hitler unter Missbrauchsverdacht. Hitler war ein überaus effektiver, ja bezwingender Redner, aber seine vor Hass, Gewalt und Drohungen triefender Delirien haben zumindest in diesem Raum eine Scheu vor großer Rhetorik bewirkt.

Im angelsächsischen Raum, der keine mörderischen Diktaturen erlebt hat, herrscht weit mehr Freude an großer Rhetorik großer Männer. Eine davon ist die Rede, die der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King vor 50 Jahren vor dem Jefferson Memorial in Washington gehalten hat. Die Meisterschaft des Pastors und Predigers King an diesem Tag bestand darin, durch die Wiederholung von "I have a Dream" eine Vision zu schaffen von einem besseren, versöhnten Amerika: "Free at last! Thank God Almighty, we are free at last!"

King hielt die Rede fast genau 100 Jahre, nachdem Präsident Abraham Lincoln" mit seiner "Gettysburg Address" die Existenzfrage der Vereinigten Staaten gestellt hatte. Auf dem Soldatenfriedhof der fürchterlichsten Schlacht des amerikanischen Bürgerkrieges drang Lincoln in nur zweieinhalb Minuten und mit nur 272 Worten zum Kern der Sache vor: Kann eine Nation, die auf dem Grundsatz gegründet wurde, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind, unter diesen Umständen Bestand haben? Er erwähnt kein einziges Mal direkt die Sklaverei. Ihre Aufhebung war für ihn sozusagen selbstverständlich inkludiert in der Erhaltung der Union und einer demokratischen Regierungsform: "... and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth."

Ebenfalls in den gefährlichsten Augenblicken der Geschichte Großbritanniens hielt Winston Churchill 1940 seine berühmtesten Reden: Er war erst seit Tagen Premierminister, Hitlers Wehrmacht jagte die französische Armee und das britische Expeditionskorps vor sich her, im Land und in seiner eigenen Regierung gab es genug Defaitisten. Großbritannien stand am Abgrund. Mit unvergleichlicher Kürze und Klarheit fixierte der neue Premier seine Ziele und zeigte seinen absoluten Siegeswillen: "You ask, what is our policy? I will say: It is to wage war, by sea, land, and air, with all our might and with all the strength that God can give us; to wage war against a monstrous tyranny. That is our policy. You ask, what is our aim? I can answer in one word. It is victory, victory at all costs, victory in spite of all terror, victory, however long and hard the road may be; for without victory, there is no survival." Als eine Invasion der britischen Inseln im Raum stand, hielt er die Nation fast nur durch die Kraft seines Widerstandswillens aufrecht: "... we shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender."

Unfair, von unseren heutigen Politikern so etwas zu verlangen? Wir befinden uns in Europa weder im Bürgerkrieg noch in einem Weltkrieg oder einem Kampf um fundamentale Menschenrechte. Churchills rollende Rhetorik wäre heute wohl altmodisch. Aber zur größten Wirtschaftskrise seit 1931 könnte man schon mehr Erhellendes, Erklärendes, Zukunftsgerichtetes sagen. So wie er seine "We shall fight"-Rede mit der Aussicht auf Hilfe und Rettung durch "the New World" (USA) auf einem Ton der Hoffnung beendete, wären wir schon froh, wenn jemand ein paar überzeugende Worte fände. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 28.8.2013)