Mainz - Wenn im Verlauf der Geschichte eine Kultur eine andere verdrängt hat, muss das nicht automatisch an einer überlegenen Waffentechnologie gelegen haben. Oft dürften auch Faktoren eine Rolle gespielt haben, die auf den ersten Blick eher unscheinbar wirken, tatsächlich aber entscheidende Bedeutung haben. Wie zum Beispiel Milch.

Das EU-Projekt LeCHE hat über Jahre hinweg die steinzeitliche Ausbreitung der Milchwirtschaft in Europa und die Entwicklung der Milchverträglichkeit untersucht - immerhin gibt es ganze Weltregionen, in denen die Laktoseintoleranz unter erwachsenen Menschen bei 80 bis 100 Prozent liegt. Dass Europäer Milch und Milchprodukte auch nach dem Abstillen weiter verdauen können, dafür bedurfte es erst einer Veränderung in unserem Erbgut. Die dürfte in zwei Wellen abgelaufen sein und habe vor etwa 8.000 Jahren begonnen, wie die an dem Projekt beteiligte Universität Mainz berichtet.

Eine echte Revolution

Mit der neolithischen Revolution, also dem Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu sesshaften Bauern in der Jungsteinzeit, kam auch die Nutzung von Milchtieren auf und verbreitete sich vom Nahen Osten über ganz Europa. Die Verarbeitung von Milch zu Käse und Joghurt trug wesentlich zur Entwicklung der Milchwirtschaft bei, da so der Laktosegehalt der Frischmilch auf verträgliche Maße reduziert werden konnte und den Menschen damit wertvolle Nahrungsmittel zur Verfügung standen.

Kurz bevor die ersten Bauern Europa besiedelten, kam es zu der entscheidenden genetischen Mutation, die zur dauerhaften Ausschüttung des Verdauungsenzyms Laktase führte, das Milch verträglich macht. "Diese Milch-Revolution in zwei Schritten könnte der entscheidende Faktor gewesen sein, dass Bauern und Tierhüter aus dem Süden über Europa hinwegfegen und die Jäger- und Sammlerkulturen ersetzen konnten, die zuvor Tausende von Jahren dort gelebt hatten", heißt es in einem "Nature"-Bericht über die LeCHE-Forschungen. 

Untersuchungen an Skeletten aus der Jungsteinzeit

"Um die Bedeutung einzuschätzen, muss man bedenken, dass ein großer Teil aller heutigen Mittel- und Nordeuropäer eine nur kleine Gruppe von neolithischen Ackerbauern als Vorfahren hat, die zufällig in der Lage waren, auch nach dem Abstillen Frischmilch zu verdauen", sagt der Mainzer Anthropologe Joachim Burger. Sein Team hat die Laktasepersistenz, also die Fähigkeit, Milchzucker abzubauen, in Skeletten des Neolithikums untersucht.

"Zu den prominentesten Ergebnissen der LeCHE-Gruppe gehört der Nachweis von Milchfetten in zahlreichen jungsteinzeitlichen Keramikresten und auch die Modellierungen zur Verbreitung der positiven Selektion von Laktasepersistenz", resümiert Burger. Bis vor 5.000 Jahren lag die Laktase-Persistenz in der Bevölkerung bei nahezu null, auch in Gebieten, in denen sie heute über 60 Prozent beträgt. Starke positive Selektion und immer wieder auftretende Migrationswellen machen die Forscher für diesen evolutionär ungewöhnlich rapiden Anstieg verantwortlich. (red, derStandard.at, 1.9. 2013)