derStandard.at: 120 Islamisten aus Deutschland sind nach Schätzungen des Bundesverfassungsschutzes bisher in den Nahen Osten gereist, um sich am Bürgerkrieg in Syrien zu beteiligen. Ist diese Zahl realistisch?

Dantschke: Ich wäre bei jeder genannten Zahl vorsichtig. Klar ist, es gibt einen Hang dazu, nach Syrien zu gehen. Es gibt aber auch Personen, die über islamische Hilfsorganisation nach Syrien gehen. Dabei weiß man nicht immer, ob diese jungen Männer dort hingehen, um wirklich bei diesen Hilfsorganisation mitzuarbeiten oder um bei gewissen Gruppen zu kämpfen. Manche werden dann erst vor Ort durch die Erlebnisse und die Gräuel des Krieges in ihrem Entschluss gestärkt, dort zu bleiben, um zu kämpfen.

derStandard.at: Um nach Syrien zu kommen, braucht es eine gewisse Logistik. Gibt es in Deutschland Unterstützernetzwerke, die diese Reisen ermöglichen?

Dantschke: Nicht jede islamische Hilfsorganisation ist eine verkappte Schleusergruppe. Aber ich denke, dass innerhalb eines bestimmten Spektrums islamischer Hilfsorganisationen radikalisierte Jugendliche nach Syrien kommen, um zu kämpfen. Es gibt sicherlich gewisse Verbindungen aus Syrien nach Deutschland, eine Logistik und ein gewisses Netzwerk, das zwar in Deutschland nicht zum Jihad aufruft, aber die ganze ideologische Prägung und Ausrichtung über Seminare und Vorträge vorgibt.

Das Entscheidende ist aber die Logistik im Kopf. Der Entschluss, der im Kopf gefasst wird – teilweise durch die erschütternden Bilder aus Syrien. Die Motivation "Ich will hier nicht nur sitzen, ich will den Brüdern und Schwestern in Syrien helfen". Ein solcher Entschluss muss gereift sein. Sobald das geschehen ist, findet man auch den Weg zu den entsprechenden Gruppen.

Deswegen ist auch diese neue Werbestrategie radikaler salafistischer Gruppierungen perfide: auf bekannte Köpfe wie den Ex-Rapper Deso Dogg, der derzeit in Syrien ist, zu setzen und Videos aus Syrien auf Deutsch zu produzieren. So etwas schafft Neugierde. Vorher kannte man hierzulande nur Gruppen wie die Ausländerbrigaden oder Jabhat an-Nusra, jetzt aber gibt es dazu auch vertraute Gesichter, und das wirkt wie eine Adresse, an die man sich wenden kann. Gerade diese mehrsprachigen Propagandazentralen, die ganz gezielt auf Russisch, Türkisch, Arabisch und Deutsch ihre Zielpersonen in ihrer Landessprache ansprechen, sind ein wichtiges Mittel, weil sie den jungen Menschen, die das sehen, signalisieren: Du bist gemeint.

Die deutschsprachige Propagandaoffensive scheint auch hier in Deutschland organisiert zu werden – das heißt, die Verbindungen zu den Ausländerbrigaden in Syrien bestehen. Das Entscheidende ist jedoch, dass jemand hier in Europa den Entschluss fasst zu gehen. Dazu läuft in Europa derzeit eine ziemlich heftige Kampagne, um diesen Entschluss zu fördern.

derStandard.at: Über derartige Gruppen wird sehr viel und gerne in den Medien berichtet. Inwieweit ist diese Berichterstattung in die Propaganda einkalkuliert?

Dantschke: Das ist das Interessante an dieser Propagandaoffensive. Auf Twitter sprechen diese Propagandaplattformen zum Beispiel ganz gezielt gewisse Journalisten und Medien an. Es wird dafür gesorgt, dass die Propaganda gezielt an gewisse Medien kommt, und darauf gewartet, welche Medien das aufgreifen. Selbst marginalste TV-Beiträge von kleinen regionalen Privatsendern werden von diesen Jihad-Propagandisten wahrgenommen. Egal welche Art von Medien, jede Wahrnehmung ihrer Gruppe im nichtmuslimischen Bereich gibt ihnen das Gefühl, wichtig zu sein. Wenn Medien diese Botschaften aufgreifen, transportieren sie natürlich auch diese Propaganda. Deswegen ist die Berichterstattung darüber ein zweischneidiges Schwert.

derStandard.at: Wer orchestriert diese Medienoffensive auf Deutsch?

Dantschke: Die islamistischen Ausländerbrigaden in Syrien, wo sich Europäer aus allen möglichen Herkunftsländern tummeln, ist eine multinationale Truppe. Dort scheint es einen Propagandaverantwortlichen für jedes Land zu geben. Da existieren sicherlich auch Verbindungen nach Deutschland. Ich vermute, dass darunter auch Leute aus dem Umfeld der in Deutschland verbotenen Kameradschaft Millatu Ibrahim sind – Deso Dogg und der Österreicher Mohamed M. waren die Köpfe dieser Gruppe.

Interessant ist auch, dass sie offenbar über professionelles Equipment verfügen – die Videos sind ja sehr gut gemacht.

derStandard.at: Ist die radikale salafistische Karriere des als Jihad-Rapper bezeichneten Deso Dogg typisch in Deutschland?

Dantschke: Es radikalisieren sich junge Menschen aus den unterschiedlichsten ethnischen, religiösen und sozialen Herkünften. Insofern ist Deso Dogg für einen bestimmten Teil der Jugendlichen typisch. Er gehört zu diesen sehr stark narzisstischen Persönlichkeiten, das heißt, es geht letztlich auch um ihn selbst, er möchte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, berühmt werden. Das ist bei vielen von diesen Jugendlichen durchaus eine Motivlage. Letztendlich entscheidend ist das persönliche Leben vor der Radikalisierung: Versuche, irgendwo dazuzugehören, einen Sinn im Leben zu finden, eine Rolle zu spielen, manchmal auch ein kaputtes Elternhaus. Auch das Gefühl, nicht Teil dieser Gesellschaft zu sein, und Diskriminierungserfahrungen spielen oft eine Rolle. Das ist ein ganzer Blumenstrauß, der zusammenkommt und junge Menschen für radikale Strömungen ansprechbar macht.

Diese Motivlage findet sich auch bei Deso Dogg: Er hatte verschiedene Rollen als Kleinkrimineller, dann als Rapper. Man sieht das auch an seinen wechselnden Namen: Er heißt eigentlich Denis Cuspert, als Rapper nannte er sich dann Deso Dogg, als er mit dem Salafismus in Berührung kam, nannte er sich Abu Maleeq und wurde in der Szene als Nasheed-Sänger aufgebaut. Als Jihadist nennt er sich nun Abu Talha al-Almani. Das heißt, er erfindet sich permanent neu, was sich auch in den Namen wiederspiegelt. Das ist eine permanente Suche nach Bedeutung und Wichtigkeit. Man hatte immer das Gefühl, er war auf der Suche, und salafistische Kreise haben sein Potenzial entdeckt und gefördert.

derStandard.at: Militärisch spielen Personen wie Deso Dogg in Syrien keine Rolle? Was ist dann das Kalkül, solche Leute dort hinzuschicken?

Dantschke: Indem man Kämpfer aus aller Herren Länder holt, internationalisiert man den Kampf in Syrien und hebt so die Bedeutung des Konflikts. Gleichzeitig sind diese ausländischen Kämpfer wichtige Propagandisten in ihren Heimatländern. Deso Dogg spielt vor allem für die Propaganda eine wichtige Rolle. Man zieht so junge Leute aus Europa an, die jetzt in Syrien ausgebildet werden und Erfahrung sammeln. Manche dieser Kämpfer kommen auch wieder in ihre Heimatländer zurück. Man hofft so auch auf Leute, die in ihren Herkunftsländern im Fall des Falles zum Einsatz kommen können.

derStandard.at: Hat man Leute wie Deso Dogg zu lange unterschätzt?

Dantschke: Man hat das lange Zeit nicht ernst genommen, es wirkte ja auch oft sehr wie reines Maulheldentum. Die internationale Situation war aber auch lange Zeit nicht so explosiv, das hat sich durch den Syrien-Konflikt natürlich stark geändert.

Gruppierungen wie Millatu Ibrahim waren in der Szene auch nicht wirklich erfolgreich: Nachdem diese Gruppen den Kampf auf die Straße getragen haben, haben sich starke Gegenkräfte selbst innerhalb des salafistischen Milieus in Deutschland entwickelt. Die Szene war im Mai 2012 in sich total zerstritten. Meiner Meinung hat man damals den Fehler begangen, dass man diese inneren Reibungskräfte nicht erkannt hat. Was ist stattdessen von politischer Seite passiert? Man hat begonnen, Salafismus zu homogenisieren, seitdem spricht man nur mehr von Salafismus und Jihadismus, als ob das zwei homogene Strömungen wären. Man hat überhaupt nicht die Komplexität der Szene erkannt.

derStandard.at: In Deutschland gingen die Behörden relativ hart gegen radikale Salafisten-Gruppen wie Millatu Ibrahim vor. War das die falsche Taktik?

Dantschke: Der repressive Staat alleine funktioniert nicht. Da gibt es Ansprachen von Gefährdern(Personen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begehen könnten, Anm.), da kommt der Staatsschutz – das kann bei bereits ideologisierten Jugendlichen eher zu einem Radikalisierungsschub führen und zu dem Entschluss, Deutschland in Richtung Kampfgebiet zu verlassen. Muslimische Jugendliche, die bereits eine ablehnende Haltung gegenüber ihrem Heimatland eingenommen haben, sehen solche Repressionen eher als Bestätigung des Narrativs eines weltweiten "Kampfes der Ungläubigen gegen den Islam". Deswegen müsste viel mehr im Bereich der Zivilgesellschaft, vor allem in der Jugendarbeit, gemacht werden.

Gerade jetzt, wenn die politischen Ereignisse in Syrien und Ägypten hochkochen, die viele Jugendliche beschäftigen, braucht es einen Raum, wo diese Jugendlichen aufgefangen werden und darüber reden können. Das fehlt uns ein bisschen. Die Jugendlichen suchen sich dann ihren Raum selbst, und das ist natürlich das Internet und Facebook, wo sie dann auf Seiten und Videos stoßen, die sehr einseitig sind.

Generell ist es so, dass es im Bereich der Jugendarbeit viele Defizite gibt. Das betrifft aber nicht nur Jugendliche, die dann in den Salafismus abgleiten, sondern zum Beispiel auch Rechtsextremismus. (Stefan Binder, derStandard.at, 30.8.2013)