Berlin – Depressionen gehören zu den häufigsten Diagnosen, gegen die Patienten ein Psychopharmakon erhalten. Das steht im Widerspruch zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) angesichts der aktuellen Studienlage betont. Meist helfe eine Psychotherapie mehr – zumindest gegen leichte und mittelschwere Depressionen. Aber auch bei der Behandlung schwerer Depressionen dürfe sie nicht fehlen, so die Fachgesellschaft. 

Psychotherapie sollte Mittel der Wahl sein

"Bei der Behandlung von Depressionen weicht der Alltag in den Arztpraxen teilweise erheblich von den Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften ab", sagt Henning Schauenburg, DGPM-Experte und Facharzt für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Während Ärzte dagegen zunehmend Antidepressiva verordnen, empfehlen internationale und nationale Leitlinien Psychotherapien, wie etwa die psychodynamische Therapie oder die Verhaltenstherapie.

Die deutsche Versorgungsleitlinie "Unipolare Depression" führt zum ersten Mal nicht mehr die Arzneimittel-, sondern die Psychotherapie als Mittel der Wahl gegen leichte Depressionen an – also gegen länger anhaltende Antriebslosigkeit, geringes Selbstwertgefühl und Freudlosigkeit. Für mittelschwere Depressionen gilt demnach, dass kurzfristig Medikamente besser helfen, mittelfristig jedoch Psychotherapien zu größeren Erfolgen führen. Das haben vor Kurzem Wissenschaftler in den Niederlanden mit einer Untersuchung an rund 100 Patienten bestätigt. Bei schweren Depressionen mit schweren Schlaf- und Antriebsstörungen sowie gravierenden Suizidgedanken muss laut Studienlage eine Psychotherapie die Behandlung mit Tabletten zumindest begleiten. 

Meist nur Behandlung beim Hausarzt

"Leider entsprechen diese Empfehlungen nicht der Realität", sagt Schauenburg. "Der Großteil der Patienten mit Depressionen wird in Hausarztpraxen behandelt, wo Medikamente verschrieben, aber keine Psychotherapien durchgeführt werden können." Das sei nicht unbedenklich, weil die ambulant am häufigsten verordneten Antidepressiva zahlreiche Nebenwirkungen hätten. Unter anderem könne es zu Unruhezuständen, aber auch zu Blutungen im Magen-Darm-Trakt und bei jungen Erwachsenen gelegentlich zu einer Steigerung des Suizidrisikos kommen.

Im Gegensatz dazu führten Psychotherapien zu einer höheren Kooperationsbereitschaft der Patienten und sie wirkten nachhaltiger, weil die Patienten in ihnen Bewältigungsstrategien lernten, von denen sie auch nach der eigentlichen Behandlung profitieren könnten. 

Fortschritte, aber immer noch Verbesserungsbedarf

Laut Schauenburg sei zwar erfreulich, dass Patienten heute häufiger als früher eine Psychotherapie bekommen. "Dennoch muss angesichts langer Wartezeiten die Zahl der Psychotherapieplätze weiter erhöht werden, müssen Psychotherapien noch zugänglicher gemacht, beständig verbessert und flexibler gestaltet werden", so der DGPM-Experte. Er rät Betroffenen, ihre behandelnden Ärzte nach einer Psychotherapie zu fragen - spätestens dann, wenn die Medikamente nach sechs Wochen keine Besserung bringen. (red, derStandard.at, 29.8.2013)