Ein Starkoch als Gestalter: Die Namen der Designer Ero Saarinen oder Bouroullec gehen Tim Raue ebenso leicht über die Lippen wie das Rezept für Abalone-Carpaccio.

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STANDARD: Geht es Ihnen gut?

Tim Raue: Jaja.

STANDARD: Gestresst?

Raue: Ja.

STANDARD: Selbstgewähltes Schicksal ...

Raue: (Raue lacht)

STANDARD: Ich habe das Gefühl, in Ihrem Restaurant gerade Farben gegessen zu haben. Zieht sich durch alle Gänge ein ästhetisches Konzept?

Raue: Erst einmal geht es nach der Saison - nicht jener hier in Deutschland, sondern der in Thailand oder China. Was ist dort aktuell? Und dann wird mit den Zutaten farblich aufgebaut. Es fängt immer mit einer hellen Farbe an und wird dann dunkler. Zum Beispiel Hellgrün - Dunkelgrün, Orange - Rot und im Hauptgang dann meistens etwas Braunes. Fleisch Dunkelbraun, Geflügel Hellbraun, und zum Dessert hin kommt dann wieder etwas Helleres, Pastell oder Beige.

"Nicht übertreiben"

STANDARD: In der Kunst würde man sagen: konzeptionell. Wie schaut es mit den Texturen aus? Von cremig zu knusprig?

Raue: Da darf man nicht übertreiben. Nicht jeder Gang muss Süßes, Saures, Scharfes, Weiches und Knuspriges haben. Ein Gang zum Löffeln, zum Reinschwelgen, einer mit Knusprigem, Textuellem. Und ganz wichtig und entscheidend sind neben den Aromen die Proportionen. Man kann mit einem Pfefferkorn oder einem Stück Spargel den gesamten Teller beeinflussen.

STANDARD: Wie entwickeln Sie das?

Raue: Gar nicht, das ist einfach Glück. Und es hat viel damit zu tun, dass ich mich mit kaum etwas anderem beschäftige als mit Essen. Das ist mein Job. Das wird aber jedem so gehen, der in seinem Bereich ambitioniert ist, dass die Dinge zu ihm kommen.

STANDARD: Was ist mit Inspiration? Oder schöpfen Sie nur aus sich selbst?

Raue: Ich lasse mich natürlich inspirieren. Das ist ganz wichtig. Ich blättere in vielen Magazinen. Mich interessiert Interieur-Design sehr, Stoffe mag ich. Architektur, Autos, Formen und Farben - das speichere ich alles ab, und wenn ich dann vor einem Teller stehe und festgelegt habe, dass wir etwas mit grünem Spargel machen, dann fließt all das ein, um die Formen zu kriegen, die ich will.

STANDARD: Wie hat sich Ihre Wahrnehmung, was gut beziehungsweise sehr gut aussieht, im Laufe Ihrer Praxis verändert?

Raue: Von dilettantisch über hochmütig zu entspannt und jetzt am Schluss souverän. Als ich anfing, hatte ich keine Ahnung, dann hielt ich mich irgendwann für den Größten und dachte, jeder Teller ist hammermäßig. Da hilft es dann, zu Kollegen essen zu gehen - da kommt man dann schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Die nächste Phase war deutlich entspannter, weil ich festgestellt hatte: Eigentlich ist es völlig wurscht, der Geschmack zählt.

Optik und Anrichten

STANDARD: Sie können sich die Mühe mit dem Anrichten also eigentlich sparen ...

Raue: Es ist lustig: Von 100 Gästen sagt dir kaum einer was zur Optik - also zum Porzellan meine ich. Das Feedback auf den direkten Geschmack ist sehr, sehr hoch, das kommt so gut wie von allen Gästen, aber die Fragen, die Sie mir gerade stellen, die kommen von maximal fünf Prozent.

STANDARD: Also noch einmal: Sie könnten auf die Optik komplett verzichten.

Raue: Grundsätzlich kann man das sagen. Optik und Anrichten benötigt Arbeitskräfte - Hände. Spargel, eine Scheibe Mango und Cremes auf einem Teller, dazu brauche ich in einer Restaurantküche keine zwölf Hände, da reichen sechs. Da geht es um die Idee der verschiedenen Restaurants in unterschiedlichen Preisklassen. Je weniger Arbeitskräfte ich einsetzte, desto preiswerter kann ich Menüs eben auch anbieten.

STANDARD: Neben dem Spargel schwebt ein kleines lila Baiser - ich habe noch nicht verstanden, wie Sie auf eine solche Idee kommen.

Raue: Das bedeutet Eintauchen in mein Gedankenuniversum. Dabei ist der Gang eigentlich ganz einfach entstanden. Ich war auf der Patisserie-Station, und wir hatten ein Dessert, das bestand aus Basilikum, Mango und Veilchen. Ich habe im Weggehen ein Löffelchen Veilchencreme probiert. Im Arbeitsbereich Beilagen hat jemand Spargel geschält. Ich habe eine dünne Stange genommen und mir die einfach reingefeuert. Und dachte nur: wow! Dann habe ich die Kombination mit rohem, gekochtem, frittiertem Spargel probiert, mit dem Basilikum und der Mango. Der Spargel kommt normalerweise mit etwas Knusprigem, zum Beispiel frittiertem Koriander. Also war es ganz logisch, mit dem Veilchenbaiser ein knuspriges Element hinzuzufügen.

STANDARD: Wie lange dauert das Design von so einem Gericht?

Raue: Im Schnitt zwei Wochen.

STANDARD: Es gibt den göttlichen Funken, und dann entstehen Sachen ...

Raue: Der göttliche Funke ist mir zu pathetisch.

Zeitgemäßer Look

STANDARD: War auch eher ein bisschen ironisch gemeint. Was hat sich bezüglich Ästhetik verändert - gibt es einen zeitgemäßen "Look" in der Sterneküche?

Raue: Bei mir hat es sich natürlich verändert: Als ich im Swiss Hotel war, hatten wir ca. 120 Essen pro Tag - das ist eine ganz andere Menge, für die kalkuliert werden muss ... Für ein Gourmetrestaurant waren das unglaubliche Mengen. Wenn ich die Ästhetik in einer Schulnote bewerten soll, war es zwischen drei und vier. Später war es ein mehr an Ästhetik - mehr an Formen, mehr an Porzellan. Im Nachhinein finde ich es sehr chaotisch, weil du als Gast sechs Gänge auf sechs völlig unterschiedlichen Materialien und Formen bekommst. Ich hatte damals einen Hang, Produkte zu nehmen, die abstrus waren. Das hat eine internationale Klientel extrem angesprochen - aber national war das nicht wenig Aufmerksamkeit, aber wenige Berliner Gäste.

STANDARD: Und aktuell?

Raue: Eine leichte Kehrtwendung - stilistisch eher das, was wir im Swiss gemacht haben, aber ich bin viel präziser geworden. Die Gänge sind sehr auf den Punkt gebracht - es gibt nichts, was du weglassen kannst, dazulegen geht schon. Wir versuchen, uns zurückzunehmen und es perfektionistisch anzulegen. Im Swiss habe ich alle vier bis fünf Wochen wahnhaft die Karte gewechselt. Jetzt ist es so, dass wir fünf bis sechs Karten pro Jahr haben und ich viel intensiver am einzelnen Gericht arbeite.

STANDARD: Perfektionismus kann auf dem Tisch schlimm manieriert daherkommen.

Raue: Finde ich das Schlimmste! Ich möchte nichts, was von Ornamentik erschlagen wird. Es soll Essen sein und als Essen sofort erkennbar sein. Es soll mit einer wolkenhaften Leichtigkeit eines temporären Designs daherkommen. Wenn es zu sehr angerichtet ist. Gäste, die sagen: Das ist so schön, das möchte ich nicht essen - bei dem Feedback weiß ich, ich habe etwas falsch gemacht, und muss das sofort ändern.

STANDARD: Gibt es einen Zeitgeist in der Optik?

Raue: Bestimmt, aber dem habe ich mich schon immer verschlossen. Ich bin ganz weit weg von Trends. Pünktchen, Türmchen und Mikroelemente gehen mir auf die Nerven. Das Schlimmste sind Striche auf dem Teller. Was mir dazu einfällt, sage ich lieber nicht.

"Ich will erkennen, was ich esse"

STANDARD: Was beeinflusst Sie?

Raue: Nicht die Molekularküche - die hat mich nie interessiert oder fasziniert. Ich will erkennen, was ich esse. Einen Event für Louis Vuitton, den ich vor drei Jahren übernommen habe, hat mich sehr beeinflusst. 24 Direktoren der weltweit bedeutendsten Museen durfte ich bekochen. Die einzige Vorgabe, die es gab: Sie möchten keine Kunst auf dem Teller haben. Erst einmal bin ich zickig gewesen und habe gedacht: Was wollt ihr denn? Soll ich es hässlich machen, oder was? Ein dämlicher Reflex: einfach dagegen sein. Aber Kunst hängt eben an Wänden oder steht in Museen.

STANDARD: Und? Danach ist Kochen keine Kunst?

Raue: Das stimmt. Und mir hat diese Aussage einen viel normaleren Blick auf das Essen gegeben. Es ist berechtigt. Kunst ist ein unglaublicher Aufwand an Arbeit, Zeit und Inspiration. Wenn ich den Spargel auf den Teller lege, dauert das drei Sekunden.

STANDARD: Aber die Entwicklungszeit und die Komposition - ist das auf Ihrem Niveau nicht vergleichbar mit Kunst?

Raue: Was mich befähigt, ist auch die Reflexion des Gastes, er ist mir wichtiger als das, was an Eitelkeit in mir steckt. Ich würde von meiner Idee her den Teller oft ausschweifender anrichten, aber das ist Bullshit. Von 10.000 Gästen sind zwei dabei, die zu mir sagen: 'Wow, Sie haben sich echt was dabei gedacht.' Mein oberstes Ziel ist, dass jemand glücklich und satt aus meinem Restaurant geht. Ich glaube nicht, dass ein Künstler wirklich Menschen glücklich und zufrieden aus seiner Ausstellung gehen sehen will.

STANDARD: Voller Bauch = saugut? Das war's? Und das als Sternekoch?

Raue: Die Kraft muss ganz in das Produkt und den Geschmack gelangen - nicht in das Design. Design ist das Einzige, was man zurückfahren kann. Ich rede vom Koch mit seinen Eitelkeiten und seinem Hang zu vielen teueren Tellern.

STANDARD: Woher kommt eigentlich Ihr Asien-Wahn?

Raue: Der ist organisch gewachsen. Ich war vier Jahre weltweiter Küchendirektor der Swiss Hotels. Headquarter Singapur, zwei Häuser in Tokio. Ich sollte strukturieren. Das hat geklappt, und ich habe viel mitgenommen: Seele und ein tiefes Verständnis von Essen. Wir Deutschen kümmern uns um das Auto und das Häuschen, aber wir lernen in der Schule nicht, dass wir ohne Essen sterben. Was wir uns zufügen, lässt uns leben. Und keiner sagt uns, dass Fastfood scheiße ist, weil da ohne Ende Zucker drin ist, Stärke und Kohlehydrate. Fastfood macht uns zu Junkies, die immer den nächsten Zuckerschuss brauchen und verlernt haben zu schmecken.

"Bin kein regionaler Koch"

STANDARD: Wenn Sie selbst schon auf das Thema Nachhaltigkeit kommen: Warum müssen Sie Ihre Zutaten eigentlich aus Asien einfliegen, mit CO2-Verbrauch ohne Sinn und Verstand? Es gibt doch auch gute Sachen in der Region.

Raue: Davon träumen Sie, das ist eine Mär. Erstens gibt es nicht genug auf dem Niveau, auf dem wir arbeiten, und zweitens bin ich kein regionaler Koch. In Deutschland gibt es keine Kultur für exzellente Lebensmittel. Wir haben sowieso keine Kultur für Eliten. Und das, was ich mache, ist elitäres Arbeiten. Das haben wir beim Wein ohne Frage, aber beim Fleisch oder Geflügel - vergessen Sie es. Im Vergleich zu Frankreich ist das wie VW Polo oder Mercedes- S-Klasse fahren. Fisch! Find doch mal jemanden, der in der Lage ist ...

STANDARD: Was ist denn in Asien besser? Wo Garnelen in ihren Exkrementen schwimmen und mit Antibiotika verseucht sind?

Raue: Das würde ich so nicht stehen lassen. Das gibt es vielleicht auch noch, aber wie gesagt - ich kümmere mich um die Elite. Davon abgesehen: Es ist absolut unnötig, jeden Tag Fisch oder Fleisch zu essen. Und bevor ich Dreck esse, gebe ich lieber gezielt mal mehr aus. Wir beziehen 99 Prozent unserer Produkte aus Thailand und kooperieren mit Bauern, die ohne Pestizide arbeiten, weil Thailand der größte Gemüselieferant Japans ist und der Japaner der Ober-Food-Fetischist ist und nichts akzeptiert, was nicht top ist. Was der Japaner an Produkten hat - davon können wir nur träumen. Das ist der Unterschied zwischen Polyester und Kaschmir.

STANDARD: Sie haben zwei Sterne, scharf auf einen dritten?

Raue: Den Zweiten haben wir vergangenes Jahr bekommen. Jetzt schauen wir erst mal, dass es so bleibt.

STANDARD: Ist das Ambiente Sterne-entscheidend?

Raue: Das Zünglein an der Waage. Was hier an Alvar Aalto, Vitra, Bouroullec etc. sichtbar ist, ist mein Hang zu schönen Dingen. Wir hatten zwar Interieur-Designer, aber ich habe mich erheblich eingemischt. Ich wollte ja Interieur-Designer oder Architekt werden. Unser Restaurant Soup Populaire habe ich komplett selbst eingerichtet. Das ist das, was mir am meisten Freude macht und was mir auch viel leichter fällt. Kochen ist die tägliche Herausforderung. Ein harter Job. Aber wichtiger als das Design ist die Atmosphäre. Und die machen die Menschen. (Andreas Tölke, Rondo, DER STANDARD, 6.9.2013)