"Don't be afraid to fail": Im Grunde ist das die einzige Weisheit, die man braucht.

Foto: thomas rottenberg

Dass er einmal in einer Laufkolumne den Opener machen würde, hätte sich Thomas Mießgang nie träumen lassen. Vermutlich erinnert er sich auch gar nicht mehr an diese kleine Episode. Trotzdem passt das, was der Journalist und ehemalige Chefkurator der Kunsthalle vor Ewigkeiten in der Redaktion der Ö3-Musicbox als Regel aufstellte, auch in jene Welt, in der ich mich heute bewege: "Wer nicht mindestens 3.000 Schallplatten daheim stehen hat und die Geschichte zu jeder kennt", postulierte Mießgang nämlich, "der hat kein Recht, über Musik zu sprechen." Schon gar nicht öffentlich.

Für die Spätergeborenen: Es war die Zeit der Vinylschallplatte. CDs galten als neues Ding und waren irgendwie "unrein". Suchmaschinen gab es nicht - weil es auch das Internet nicht wirklich gab. Wissen und Tonträger von abseits des Mainstreams waren schwer bis gar nicht zu bekommen. Die Ö3-Musicbox war ein Lichtstrahl in dunkelster Nacht. Dass die dort agierenden Köpfe (mitunter) selbst nur aus dem "Spex" abschrieben und/oder versuchten Diedrich Diederichsens verquastes Geschreibsel in radiokompatibles Deutsch zu transformieren, hätte keiner von ihnen/uns je zugegeben. Und würde es - ich sehe förmlich schon, wie Martin Blumenau jetzt in die Tasten seines FM4-Blogs haut :-) - bis heute nicht.

It's not rocketscience, you know?

Zurück zu Mießgang. Der rechnete nicht mit Widerspruch: Wir waren die, die die Wahrheit verkündeten. Die "definition of cool". Ex cathedra: Was in der "Box" kam, das galt. Die oberste Instanz hieß Werner Geier. Geier aber sagte nur ein Wort: "Blödsinn". Später folgte ein Exkurs über Leidenschaft, Liebe, Gefühle und individuelle Wahrnehmung. Kurz gefasst: Expertise und Fachwissen, meinte Geier, wären wichtig und richtig - aber weder genug noch alles. Und keine conditio sine qua non, um über Musik reden zu dürfen. Ich glaube, ich hörte es da zum ersten Mal: "It's not rocketscience, you know? Aber natürlich kann man die draus machen."

Was das mit Laufen zu tun hat? Nix. Alles: Wie viele Laufbücher ich gelesen hätte, fragte neulich ein Poster per Mail. Welche Experten die maßgeblichsten wären. Und woher meine Anmaßung käme, regelmäßig über die Rennerei zu schreiben: Ich sei weder Sportwissenschaftler noch (Ex-)Leistungssportler. Er selbst habe in den letzten 20 Jahren jährlich einen Marathon absolviert, lese mindestens drei Laufbücher pro Saison - und würde dennoch nicht wagen ... und so weiter.

Ich gab dem Poster recht - und verriet nur ein Buch aus meinem Regal: Haruki Murakamis "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede" (btb-verlag). Der Poster hatte von Murakami noch nie gehört. Kein Wunder: Murakami ist kein Laufguru, sondern Schriftsteller. Ein Schriftsteller, der läuft. Und just deshalb viel über das Laufen zu sagen hat. "Das meiste über das Schreiben habe ich durch tägliches Lauftraining gelernt," steht da irgendwo. Oder ist es umgekehrt? (Dass Schreiben und Laufen sehr viel miteinander gemein haben, hat hier unlängst auch ein anderer meiner Helden erklärt: Ilya Trojanow. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Das Niederschwellige macht den Unterschied

Das alles hat immer noch nix Zwingendes mit Mießgangs 3.000-Platten-Regel zu tun, finden Sie? Mag sein. Aber für mich passt es zusammen. Schließlich hab ich damals - dank Geier - hin und wieder über Musik schwafeln dürfen. Und tue das heute mit dem gleichen Background übers Laufen: "It's not rocketscience." Nicht auf dem Level, auf dem ich es tue.

Vielleicht ist es ja gerade das - sagen wir mal - Niederschwellige, das da den Unterschied ausmacht. Ally Auner, eine Facebook-Bekannte, schrieb unlängst "Wenn ich am 1. Oktober fünf Kilometer laufen und mein Team nicht blamieren will, wie sollte ich das Training anlegen? Also wie oft pro Woche und so Dingens. Momentan (nach dem zweiten Training) schaffe ich 3,x mit knapp acht Minuten pro km." Prompt feixte ein anderer FB-User, dass da wohl mein Rat gefragt sei.

Keine Ahnung, ob dem so war - aber ich klopfte eine Gratulation und ein "just do it" in Allys Chronik. Dazu ein Satzerl, dass weniger grad am Anfang meist mehr brächte, sie es ganz langsam und gemütlich angehen solle - und "gehen" dann, wenn ihr der Atem doch in den Hals rutsche, durchaus wörtlich zu verstehen sei.

Mehr - aber das schrieb ich schon nimmer - braucht jemand, dessen Couch noch popowarm ist, am Anfang nicht zu wissen: Um den Nightrun (ich glaube jedenfalls, dass Ally sich auf den bezog) zu schaffen, braucht man Klimbim, Experten, Zahlen und Tabellen und Tüftelei nicht. Sogar das übliche "kauf dir sofort gute Schuhe" verkniff ich mir: Das ist die Botschaft für die zweite Woche. Auf diesem Level kostet Laufen nix: Unter drei Kilometern in diesem Tempo verhindert meist schon die fehlende Grundkondition gröbere oder irreparable Schäden. Und Muskelkater hat sie danach so oder so.

Am Anfang der Schweißausbruch

Ich war nicht der einzige, der Ratschläge gab: Es hagelte Links. Zu Laufseiten, Laufmagazinen, Trainingsplanseiten. Einige klickte ich an. Fast alles war mehr als solide, gut, brauchbar und kompetent. Nur: Hätte mir das jemand einst auf die Frage "wie schaffe ich fünf Kilometer?" an den Kopf geschmissen, wäre ich nie zum Laufen gekommen. Auch einem Fahrschüler zeigt man Gas, Kupplung und Bremse - und nicht Navigationssystem, Sitzverstellelektronik und Klimaanlage. Und fährt am Übungsplatz: Im echten Verkehr kriegt jeder Fahrschüler sowieso mal einen Schweißausbruch. Das gehört dazu.

Drum postete ich zum Thema "Gehen im Laufgewand" noch etwas auf die Seite von Ally: "Auch wenn du dir blöd vorkommst: Fast allen ging es am Anfang so. Da dran zu bleiben ist viel schwieriger, als sich dann sinnbefreit auf "echten" Langstrecken um irgendwelche Detailwerte zu verbessern." Die Binse dürfte ein Volltreffer gewesen sein. Jedenfalls antwortete sie: "Tatsächlich fühlt man sich bisweilen in Schönbrunn etwas dämlich, wenn alle möglichen Leute an einem vorbeidüsen als wär's nix."

An dieser Stelle schalteten sich noch mehr Leute in die Diskussion ein - und ich stieg aus: Die meisten waren kompetent. Ich hätte mit ihnen trefflich plaudern (oder halt hirnwixen) können - aber das wäre für eine Newbie nicht zielführend, sondern wohl eher abschreckend gewesen: "It's not rocketscience - aber man kann ganz leicht eine draus machen." Aber wenn es mehr als nur der ganz einfache Spaß sein soll, empfehle ich dann eh einen "echten" Trainer.

"Ich mach das seit Jahren auf meine Art"

Obwohl die es auch nicht leicht haben. Leute, die runterbeten, wie viele Laufbücher sie haben, erzählte mir Michael Buchleitern unlängst, seien oft anstrengend. Nicht, weil irgendeines der Bücher Blödsinn verzapfe (obwohl: ja, auch die gibt es), sondern weil ein Fleckerteppich aus 1.000 aufgeschnappten Teil-Weisheiten das Gegenteil von zielführend sei: "Ich sag dann: Ich mach das seit Jahren auf meine Art - und bin nicht nur selbst gut gefahren, sondern hab auch viele Leute so gecoacht, dass sie ihre Ziele erreicht haben", sagt Buchleitner.

Nach dem Absondern der Binsenweisheiten für Frau A. ging ich selbst laufen. 20 Kilometer in wechselndem Tempo standen am Plan (hier der Link zur Strecke). Mit meinem lädierten Knie weiß ich derzeit aber nie, ob ich nicht nach zehn Metern aufgeben muss. Das ist kein gutes Gefühl. Ganz ehrlich? Ich hatte Angst.

Als ich aus der U-Bahn ausstieg, schlug aber das Alltagsorakel zu - und der Druck war weg. Ich hatte den Mann mit der betexteten Jacke nie zuvor gesehen: "Don't be afraid to fail" stand da. Und im Grunde ist das die einzige Weisheit, die man braucht. Nicht nur beim Laufen. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 4.9.2013)