Als IOC-Präsident Jacque Rogge am vergangenen Samstag um 22.30 Uhr mit einem Kuvert in der Hand an das Pult tritt, halten die Menschen in Japan den Atem an. Wird die Hauptstadt Tokio erstmals seit 1964 wieder Austragungsort der Olympischen Sommerspiele sein? Die Stadt ist sauber und sicher, der öffentliche Verkehr ist gut ausgebaut, die Kosten sind schlüssig kalkuliert. Eigentlich spricht alles dafür. Fast alles. Denn nur 250 Kilometer nördlich der Hauptstadt liegt der Katastrophenmeiler Fukushima Daiichi. Der nukleare Ausnahmezustand könnte die Stadt schlussendlich die Bewerbung kosten und die Möglichkeit, sich gegenüber dem Rest der Welt zu rehabilitieren.

Dementsprechend groß ist der Jubel im Saal und auf den Straßen Tokios, also Rogge das Kuvert in die Kamera streckt: Japan wird Gastgeber der Olympischen Spiele 2020 sein. Im ersten Moment könnte man meinen, eine gute Nachricht für die Anti-Atom-Bewegung. Japans Premierminister Shinzo Abe betonte in den vergangenen Tagen immer wieder, dass Fukushima im Jahr 2020 längst Vergangenheit sein werde.

Zudem bietet das sportliche Fest einen zusätzlichen Anreiz für Japan, seine Atomkraftwerke für immer zu schließen und sich als modernes grünes Land zu präsentieren - so wie es auch ein Großteil der japanischen Bevölkerung will. Betrachtet man allerdings die beteiligten Akteure und die Situation in und um Japan, wird schnell klar: Ein baldiger Atomausstieg ist für Japan keine Option. Japans nukleares Dorf wird versuchen, mit aller Macht seine Politik durchzubringen und systematisch die Gefahren der Kernenergie zu verharmlosen.

Nuklearer Advokat

Bürgermeister dieses Dorfes ist der amtierende Premierminister: Vor und nach seinen Wahlsiegen machte Shinzo Abe kein Hehl daraus, die nach der Fukushima-Katastrophe heruntergefahrenen Atomkraftwerke so bald wie möglich wieder zu starten. Seitdem hat er Personen in strategische Schlüsselpositionen gehoben, die seine Energiepolitik rasch verwirklichen sollen. Deutlich erkennen lässt sich dies an der im September 2012 geschaffenen nuklearen Regulierungsbehörde NRA (Nuclear Regulation Authority). Sie entstand aus der NISA (Nuclear and Industrial Safety Agency) und der NSC (Nuclear Safety Commission).

Neue Schläuche bedeuten jedoch nicht zwangsweise neuen Wein: Denn 460 der 480 Mitarbeiter der NRA wurden aus den beiden Vorgängerinstitutionen übernommen. Immerhin haben diese Regulatoren einen viel zu laschen Umgang mit der Fukushima-Betreiberfirma TEPCO zu verantworten. Der neue Vorsitzende der NRA zum Beispiel: Shunichi Tanaka ist der ehemalige Vizepräsident der Atomic Energy Commission, einer Schlüsselorganisation, die starken Einfluss auf die Energiepolitik der Regierung hat.

Zudem war Tanaka Präsident der Atomic Energy Society, einer Lobby für den Ausbau der Nuklearenergie im Land. In den vergangenen Wochen war er einer derjenigen, die die prekäre Situation um die lecken Auffangtanks mit kontaminiertem Kühlwasser in Fukushima fast gebetsmühlenartig herunterspielten.

Nuklearer Wirtschaftsmotor

Für Premierminister Abe und seine Wirtschaftspolitik spielen Personen wie Tanaka eine wichtige Rolle. Nur durch rasche Energiesicherheit lassen sich seine "Abenomics" umsetzen. Der Premier hat sich in eine "Do or die"-Situation begeben. Ein Land mit einer Staatsschuldenquote von 260 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Deflation und quasi Nullwachstum braucht Impulse. Und ohne Energiesicherheit droht im schlimmsten Fall eine Staatspleite.

Betrachtet man die aktuelle Handelsbilanz Japans aus Perspektive der Energiepreise, wird schnell deutlich: Ohne einen durch Atomstrom befeuerten Wirtschaftsmotor läuft Abes Wirtschaftspolitik ins Leere. Erst im Juli wies Japan ein Handelsbilanzdefizit von umgerechnet acht Milliarden Euro auf - das dritthöchste Defizit in der Geschichte Japans. Bedingt wird das durch einen schwachen Yen und Steigerungen bei den Ölpreisen. Eine schwache Währung ist von "Abenomics" gewünscht, um japanischen Unternehmen den Export zu erleichtern.

Hohe Energiepreise treffen das Land allerdings doppelt hart und bedrohen das zarte Wachstumspflänzchen der letzten Monate zu erdrücken. Japanische Energieunternehmen haben allein im Fiskaljahr 2012/13 umgerechnet zwölf Milliarden Euro Verlust eingefahren. Im vergangenen Jahr waren gut ein Drittel aller Importe energiebezogen. Genau deswegen setzt sich Abe schon seit 2010 dafür ein, den Anteil nuklearer Energie in seinem Land auf 50 Prozent anzuheben.

Nukleare Exporte

Als hochindustrialisiertes Land, das schon seit mehr als 50 Jahren Nukleartechnologie erforscht und baut, verfügt Japan in diesem Bereich über attraktive Exportgüter. Erst kürzlich war Abe auf einer Nahost-Reise. Allerdings nicht auf diplomatischer Charmeoffensive, sondern auf Verkaufstour. Eine Verdreifachung Infrastruktur-orientierte Exporte auf umgerechnet 230 Milliarden Euro bis ins Jahr 2020 ist ein wichtiger Teil von "Abenomics". Und namhafte japanische Firmen wie Toshiba, Hitachi und Mitsubishi sind große Namen im Bereich der nuklearen Energie.

Toshiba zum Beispiel besitzt 87 Prozent der Westinghouse Electric Company, eines Energiekonzerns, der Kernkraftwerke plant und baut. Allein in China soll der Konzern 17 Atomkraftwerke hochziehen. Die Nahost-Tour war nicht die einzige Initiative des Premierministers seit seinem Amtsantritt. In nur etwas mehr als einem halben Jahr lobbyierte Abe erfolgreich in Ländern wie Frankreich, der Türkei, Brasilien, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Indien für japanische Atomtechnologie.

Nuklearer Druck

Indes sitzt Japan auf einem enormen Berg nichtverarbeiteten Plutoniums. Und solange Japans Atomkraftwerke nicht wieder hochgefahren werden, wird dieser Berg weiter anwachsen. Das wird von den USA nicht gerne gesehen. Erst im April wurde das zum Thema bei einem Besuch von Tatsujiro Suzuki in Washington. Damals drückten US-amerikanische Regierungsbeamte gegenüber dem Vizepräsident der Japan Atomic Energy Commission ihre Besorgnis aus, welche Signale ein solcher Berg an Plutonium sendet: Die USA können Japan nicht gestatten, große Mengen nuklearen Materials ungenutzt herumliegen zu lassen, da dies ein schlechtes Beispiel für den Rest der Welt abgibt.

Ländern wie dem Iran und Nordkorea könnte das Argumente liefern, weiter an einer Anreicherung von Uran beziehungsweise Plutonium festzuhalten. Somit gerät Abes Regierung unter Druck, seine Atomkraftwerke eher früher denn später wieder in Betrieb zu nehmen. Gerade weil Japan ein sehr enger Juniorpartner der USA ist.

Nukleares Dorf

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das nukleare Dorf in Japan ist nach wie vor stark. Erst jetzt wird richtig sichtbar, wie abhängig das Land tatsächlich von Kernkraft ist. Selbst eine verheerende Katastrophe wie in Fukushima Daiichi hat es bisher nicht geschafft, den nuklear-industriellen Komplex aufzuweichen.

Dessen Einfluss auf die Politik ist viel zu groß, und für diese Leute steht eine Menge Geld auf dem Spiel. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Japan 2020, wenn das größte Sportfest der Welt in Tokio stattfindet, viel abhängiger von Atomenergie sein wird, als es das vor dem 11. März 2011 war. (Christian Schwarz, Leserkommentar, derStandard.at, 10.9.2013)