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Palermos Viertel La Kalsa steht für virtuose Streetfood-Solisten, die schwere Kost mit leicht verdaulicher Live-Musik servieren.

Foto: David Turnley/Corbis

Wir stehen mitten in Palermo und wissen nicht, wohin. La Kalsa ist eines von vier historischen Vierteln im Zentrum und liegt - zumindest laut Stadtplan - als klar abgestecktes Viereck zwischen Via Vittorio Emanuele, Via Marqueda, Via Lincoln und dem Meer.

Die Orientierung fällt nach Einbruch der Dunkelheit schwer in den krummen Gassen, die selten so ausgeleuchtet sind, wie das der Mitteleuropäer kennt. Auch darf man nicht erwarten, dass eine Straße tatsächlich so breit ist wie auf dem Stadtplan eingezeichnet oder dass sie ein Namensschild trägt. Meist werden die Adressen einfach irgendwo mit der Hand aufgepinselt - mal auf Italienisch, mal auf Arabisch, oft gar nicht.

Die einzigen effizienten Wegweiser sind hier Ohren und Nase: Die Geräusche aus den Bars, fröhliches Durcheinanderreden untermalt mit - unabhängig vom Wochentag - Live-Musik, und verlockende Gerüche führen fast immer zu gleichermaßen hübschen wie "nahrhaften" Plätzen. An der Ecke Via Vittorio Emanuele zur Vicolo dei Mezzani etwa steht in dieser Nacht eine Art Tresen mit Rädern, auf dem ein Blechschaff montiert wurde. Erst bei näherer Betrachtung zeigt sich die Ladefläche einer Ape. Mit diesen dreirädrigen Kleintransportern wird in Palermo von Artischocken über Ziegel bis hin zu Touristen alles transportiert, was bewegbar ist.

Palermo im Papierstanitzel

Im heißen Öl einer Blechpfanne schwimmen dünne Scheiben von der Milz. Der Verkäufer lässt sie abtropfen, stopft sie in ein Panino, träufelt Zitronensaft drauf und salzt. Dann wickelt er das Ding in ein Papierstanitzel und drückt es Hungrigen in die Hand, wofür er zwei Euro erhält. Pani câ meusa heißt dieses palermitanische Pendant zur hiesigen Leberkässemmel. Es ist der Inbegriff für mobile Nahrungsaufnahme in Palermo.

Essenstände dieser Art sind typisch für das Viertel. Von frühmorgens bis Mittag, und dann wieder des Abends bis spät in die Nacht hinein wird angeboten, was sich backen oder braten, frittieren oder grillen und irgendwie auch warm halten lässt.

Ein Glücksfall, wenn einem hier Einheimische wie Paola Lantieri, Winzerin auf Vulcano, einer der Liparischen Inseln, die kulinarische Gebrauchsanweisung für ihre Geburtsstadt Palermo liefert. Sie hält einen an, Dinge zu kosten, die sonst nur unter Einhaltung eines Sicherheitsabstandes misstrauisch beäugt worden wären: Lammdärme, zusammen mit Petersilie auf Fettstreifen aufgerollt; oder Pancetta, Bauchfleischstreifen, um Jungzwiebeln gewickelt, werden gegrillt, in kleine Stücke geschnitten, mit Zitronensaft beträufelt und per Zahnstocher in den Mund befördert; oder lauwarme Fleischknorpel mit Fettrand, gibt's gut gesotten und in einem abgedeckten Korb warm gehalten, serviert mit Pfeffer und - genau - Zitronensaft im Panino sowie in der Luxusversion auf einem Pappteller.

Alles, was zu füllen ist

Sehr sizilianisch sei es, zu füllen, was sich füllen lässt, erzählt Paola und drückt einem ein paar Arancini in die Hand. Die panierten und frittierten Reisknödel erinnern ein wenig an Orangen, daher ihr Name. Gefüllt sind sie mit einem würzigen Mix aus Faschiertem, Erbsen und Zwiebeln - oder vegetarisch mit Melanzani, Zucchini und Paradeisern.

An einer Ape ein paar Ecken weiter gibt es "sfinconello", eine Art dicken Pizzateig mit Zwiebelaufstrich und Oregano - schmeckt übrigens lauwarm gegessen und mit Cello-Begleitung von einem der zahlreichen Straßenmusiker am besten. Und wenn man Glück hat, bekommt man seinen Caffè für danach sogar in einer jener wenigen Bars, die ihn noch "torrefazione" zubereiten, also frisch im Hinterzimmer geröstet. "Sind leider selten geworden", seufzt Paola.

La Kalsa ist kein "aufgeräumtes" Viertel. Während man sich angesichts bröckelnder Fassaden wehmütig vorstellt, wie denn das hier zu deren Glanzzeiten gewesen sein muss, ist ein beträchtlicher Teil der Gebäude eingerüstet. So mancher Palazzo aus dem prunkenden Ottocento verfällt neben Gebäuden der ersten Stahlbeton-Ära in den 1960er-Jahren, die ihrerseits - so steht zu befürchten - noch das 22. Jahrhundert überleben werden.

Allerdings: Auf vielen Plätzen lassen sich zwischen den nie verschwundenen Nahversorgern wie Bäcker, Fleischer, Schuster und eben den Standlern bereits Designer und kleine Galerien nieder. (Luzia Schrampf, DER STANDARD, Album, 13.9.2013)