Helga Rohra war Simultanübersetzerin bei medizinischen Kongressen im Fachgebiet Neurologie. Durch die Demenzerkrankung wurde sie zum Sozialfall...

Foto: Michael Hagedorn

... oder vielmehr durch die Stigmatisierung, der Betroffene in der Gesellschaft ausgesetzt sind.

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Helga Rohra war beruflich äußerst erfolgreich. - Hatte eine Bilderbuchkarriere, wie es so schön heißt. Arbeitete als freie Simultandolmetscherin, sprach fließend sieben Fremdsprachen, übersetzte bei medizinischen Kongressen und Fachtagungen. Ihr Spezialgebiet: Neurologie. Resolut, selbstbewusst, gefragt, wohlhabend, hungrig nach Wissen.

Ihr größtes Kapital: das Hirn. Ein anstrengendes Leben, dafür luxuriös: Großes Apartment in München, Designerkleidung, häufige Wochenendtrips mit ihrem Sohn Jens nach Paris, London, Rom, Kairo oder Jerusalem.

Vor etwa acht Jahren begann sich alles zu ändern. - Zuerst schleichend, dann immer deutlicher. Bei ihrem letzten Kongress merkte die damals 52-Jährige, dass etwas nicht stimmt. "Ich hatte mich tagelang in das Fachvokabular eingearbeitet und stellte fest, ich lerne zwar noch schnell, aber nicht mehr so schnell wie sonst", erzählt Helga Rohra. Ihre Erklärung dafür: "Ich bin einfach erschöpft und sollte etwas zur Ruhe kommen".

Fehldiagnose Burn-Out

Die Symptome wurden immer schlimmer. Zunächst Wortfindungsprobleme und Desorientierung. Gebäude und Straßen, in denen sie schon öfters war, wirkten plötzlich völlig fremd.

Nach und nach vergisst sie ihr tägliches Handwerkzeug, die medizinischen Fachbegriffe - zuerst in den Fremdsprachen, schließlich auch auf Deutsch. Als sie eines Tages den Laptop einschalten will, weiß sie nicht mehr wie das funktioniert.

Sie geht zum Neurologen. Seine Diagnose: "Burn-Out, nehmen Sie sich ein paar Monate Auszeit und gehen sie spazieren". Sie nimmt sich Zeit, macht lange Spaziergänge, aber alles vergeblich. Eine Depression ist die Folge. Und plötzlich sind sie da, die Halluzinationen: Szenen aus ihrer Kindheit, die Geburt des Sohnes, Erlebnisse mit ihrem Ex-Mann werden zum ständigen Begleiter. Sie glaubt verrückt zu werden, denkt an das Schlimmste: Hirntumor.

Die Ärzte sind lange ratlos. Insgesamt dauerte es zwei Jahre bis die endgültige Diagnose feststeht: Lewy-Body-Demenz - eine im Vergleich zu Alzheimer relativ seltene Form. Neben Gedächtnisstörungen und Parkinson-Symptomen, zählen auch Halluzinationen zum typischen Krankheitsverlauf. Helga Rohra ist zu diesem Zeitpunkt 54 Jahre alt.

Sprachlosigkeit

Die Gewissheit ist schockierend und beschämend zugleich. Macht Angst, die Helga Rohra verstummen lässt. Es gibt weder Freunde noch Angehörige, denen sie sich anvertrauen will. Ihren Sohn, der vom Asperger-Syndrom betroffen ist, möchte sie schon gar nicht damit belasten. Auch eine Selbsthilfegruppe ist zunächst kein Thema, denn "ich habe zuerst Zeit gebraucht, um die Diagnose selbst zu verarbeiten". Irgendwann hat sie die Kraft, nimmt den Flyer zur Hand, den ihr der Arzt nach der Diagnose mitgegeben hat, und sucht das Beratungs- und Informationsangebot der Alzheimer Gesellschaft auf. - Hier öffnet sie sich und spricht über ihre Erkrankung. "Ich fühlte mich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder verstanden und aufgehoben", schildert Helga Rohra ihre Erfahrungen in der Selbsthilfegruppe. Zudem zeigt ihr der Kontakt mit anderen Betroffenen das große Altersspektrum der Demenz auf. "Es ist ja nicht so, dass dort nur alte Menschen sitzen. - Die jüngste Teilnehmerin war 32 Jahre alt", so Helga Rohra.

Leben mit dem Vergessen

Es vergehen Monate, bis sie es schafft, Klartext mit ihrem Sohn zu reden. Dieser reagiert - im Gegensatz zu ihren beruflich erfolgreichen Freunden - verständnisvoll und wird zum wichtigen Anker. "Mein damaliger Freundeskreis hat meine Ausfälle mit nicht sehr feinfühligen Aussagen kommentiert. 'Du wirst ja von Minute zu Minute dümmer', war ein Spruch, den ich damals immer wieder zu hören bekam", erzählt Rohra. Nachdem sie ihre Diagnose öffentlich gemacht hatte, wandelte sich der "freundschaftliche" Spott in Tadel: "Du redest nur mehr von der Demenz, ich kann das schon gar nicht mehr hören".

Helga Rohra musste ihr Leben neu in die Hand nehmen. Die anfängliche Durchhalteparole "Ich bin stark, ich schaffe das", wird zum überlebensnotwendigen Leitmotiv. Jeder Tag hat eine klare Struktur, ist geprägt von einer gehörigen Portion Selbstdisziplin. Zum täglichen Programm zählen viel Bewegung, mentales Training, gesunde Ernährung und Routinen. So haben etwa Butter und Marmelade im Kühlschrank stets denselben Platz. Die tägliche Zeitungslektüre ist ebenfalls ein solcher Fixpunkt. "Ich markiere Textstellen, schreibe diese mit der Hand ab und mein Sohn fragt mich dann, was ich mir gemerkt habe", erklärt Rohra.

Das heißt, der Fokus liegt auf den noch vorhandenen Ressourcen und nicht auf den Defiziten. - Eine Sichtweise, die Rohra generell im Umgang mit Demenzbetroffenen fordert: Die Begegnung auf Augenhöhe. Nicht über, sondern mit den Erkrankten sprechen. Eine Inklusion in Gesellschaft und Arbeitsmarkt durch Förderung sowie Aktivierung, statt der Hospitalisierung von dementen Menschen.

Sozialer Abstieg

Ihren gut dotierten Job hat Helga Rohra vor etwa acht Jahren aufgegeben. Einen neuen Arbeitsplatz gibt es nicht für sie, denn Konzepte, die relativ junge Demenzbetroffene weiterhin im Arbeitsleben verankern, werden in Deutschland noch nicht umgesetzt. Dazu fehlt der politische Wille, aber auch das Bewusstsein. Anfänglich konnte die heute 60-Jährige noch von ihren Ersparnissen leben. Bevor sie Geld von Sozialamt beantragen durfte, musste sie auch die Ablebensversicherung auflösen.

Das große Apartment ist einer kleinen Wohnung am Stadtrand gewichen. Reisen und neue Kleidung sind Luxus vergangener Zeiten. Auch die Haare färbt und schneidet sich Helga Rohrer selbst. - Für einen Friseurbesuch bleibt kein Geld. Laut eigenen Angaben beläuft sich ihr täglich verfügbares Budget - nach Abzug der Fixkosten - auf 1,27 Euro. Und dennoch bleibt sie ihrem Motto treu: "Ich bin zwar manchmal traurig, aber ich hadere nicht mit meinem Schicksal" (Günther Brandstetter, derStandard.at, 13.9.2013)