Karl (Harald Fröhlich, links) und Robert (Georg Reiter) warten zusammen auf das Ende.

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Salzburg - Der eine von zwei Brüdern heißt Karl. Karl, der widerborstige Held in Thomas Bernhards Der Schein trügt, war vor vielen Jahren Artist. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere balancierte er 21 Teller mit Leichtigkeit. Jetzt, am frühen Lebensabend, muss er die Lesebrille zu Hilfe nehmen, wenn er die Fußnägel schneiden will.

Karl, der 1983 erstmals die Bühne des Bochumer Schauspiels betrat, gehört in die lange Reihe der Thomas-Bernhard-Virtuosen. Sie wurden meistens von Bernhard Minetti gespielt. Minetti gab in Claus Peymanns Urinszenierungen kompromisslos das Tempo vor ("Wild und heftig bewegt ...").

Die Anschlagskultur war beängstigend. Die einzelnen Bernhard-Akte zogen wie Sätze romantischer Klavierkonzerte vorüber. Die Phrasierung war delikat, aber immer auch manieriert. Bühnengrößen wie Gert Voss, Traugott Buhre oder die Damen Kirsten Dene und Ilse Ritter fügten andere Klangfarben hinzu, gemütvolle, sachliche, manchmal auch überschnappende.

15 Jahre nach Aufhebung des Aufführungsverbotes gehören Bernhards Stücke allen österreichischen Bühnen. Das Schauspielhaus im Salzburger Stadtbezirk Nonntal hat Der Schein trügt in seine Studiobühne gepackt. Karl (Harald Fröhlich) und sein Bruder Robert (Georg Reiter) sind Kammer-Musiker. Behutsamkeit steht dieser elegischen Trauermusik hervorragend zu Gesicht. Der Schein trügt handelt nicht nur von Fußnägeln und Tellerscherben. Der Text hat Ähnlichkeit mit einem Grabhügel.

Karls Lebensgefährtin Mathilde ist erst vor kurzem gestorben. Das Wochenendhäuschen hat sie nicht Karl, dem Artisten, sondern Robert, dem Schauspieler, hinterlassen. Seitdem wird das liebevolle Einverständnis zwischen den Brüdern von einem Misston gestört. Diese Dissonanz ist der Trick der ganzen Aufführung: Man hört sie nicht gleich. Aber sie trübt die Harmonie des Zusammenspiels. So presst Karl die Unterlippe hoch, während er die Kleider der Toten in der engen Wohnung aushängt wie Häutungsreste eines Schmetterlings. Seine Tiraden entwickelt Fröhlich beiläufig, ohne alles Berserkerhafte.

Spiegelverkehrung

Jeder Gedanke an Virtuosentum wird in Robert Pienz' Regie sofort und einleuchtend unterbunden. Dieser Karl lebt in einer Gegenwart, die zur Gänze von der Vergangenheit okkupiert wird. Sein fußkranker Bruder (Reiter) ist das passive Gegenstück. Ein stilles Wasser, auf dessen Grund sich ein Geheimnis (mit Mathilde?) unheildrohend abzeichnet. Roberts Wohnung (Bühne: Ragna Heiny) verhält sich zu derjenigen Karls spiegelverkehrt. Was der eine verschweigt, vermag der andere mit seinem Geschwätz nicht zu kompensieren.

Auch so lässt sich Bernhard trefflich vom Blatt spielen. Der Schein trügt ersteht als Abfolge von Phrasen und Fragmenten wie neu. Zusammen ergibt das eine süffige Musik, die ihr Geheimnis verschweigt. Wer mit Mathilde was gehabt hat; ob der Artist der wahre Künstler ist oder nicht doch der Künstler der Artist des Stillhaltens, dies alles hält Pienz' treffliche Inszenierung hinter einem Schirm aus Glissandi (Abgleiten der Tonhöhen) verborgen.

Das theatralische Erbe Thomas Bernhards (1931-1989) beginnt sich zu verselbstständigen. Das Futter für Virtuosen geht allmählich in die Hände Nachgeborener über. Man spielt Bernhard jetzt wie Hausmusik. Man kümmert sich um den Gehalt, lässt alles Skandalöse hinter sich liegen. Man ahnt dahinter Weiten, etwas wie Schuberts "göttliche Längen".      (Ronald Pohl, DER STANDARD, 14./15.9.2013)