Gutgemeinte Tipps, wie sie sich und ihre vier Kinder gesünder ernähren könnte, kommen bei Regina Amer nicht an. Der arbeitslosen Alleinerzieherin, die mit bedarfsorientierter Mindestsicherung über die Runden kommen muss, fehlt das Geld: "Frisches Obst und Gemüse etwa kann ich mir nicht leisten. Wenn es im Supermarkt billig zu haben ist, dann nur in derart großen Packungen, dass wir es unmöglich verbrauchen können und es insgesamt wieder viel zu teuer ist", kritisierte die Wienerin auf dem Podium, bei der vom Standard mitorganisierten Diskussion zum Thema "14 Jahre Wiener Tafel - Errungenschaft oder Armutszeugnis unserer Gesellschaft?".

Die Wiener Tafel, eine Privatinitiative, rettet täglich bis zu drei Tonnen Essbares vor der Zerstörung. Jedes Jahr wird in der Bundeshauptstadt rund ein Viertel der hier erzeugten Lebensmittel vernichtet: tagesfrisches Gemüse etwa, das mit Ladenschluss von wertvoller Ware zu entsorgungspflichtigem Abfall mutiert.

Mit Warenspenden aus Handel, Industrie und Landwirtschaft versorgt die Tafel in und um Wien täglich 16.000 arme Menschen in 88 sozialen Einrichtungen. Für diese ist das eine wichtige finanzielle Entlastung: "Die Tafel liefert uns einmal wöchentlich Brot, wir müssen fast keines zukaufen", schilderte etwa Erna Nußbaumer, die Leiterin des Hauses Miriam, eines Antiobdachlosigkeitsprojekts der Caritas für Frauen, vor den rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörern im Festssaal der Bezirksvorstehung Wien-Rudolfsheim-Fünfhaus.

Doch auch wenn basisnahe Umverteilungseinrichtungen wie die Tafel oder etwa auch die Sozialmärkte dazu beitragen, Bedürftige billig bis gratis sattzumachen: Für Regina Amer, die derlei Hilfe gut brauchen könnte, sind sie keine Alternative, die Tafel etwa weil sie Lebensmittel aus Prinzip nicht direkt an Bedürftige, sondern nur an Stellen verteilt, die gleichzeitig auch Sozialberatung bieten, um Betroffenen möglichst einen Weg aus der Armut weisen.

Lieber auf Schnäppchenjagd

Und statt in den Sozialmarkt, in dem nur Menschen mit bewiesen niedrigen Einkommen einkaufen dürfen, geht Amer lieber im normalen Discounter auf Schnäppchenjagd. Sie wolle sich nicht als Sozialhilfebezieherin outen müssen, begründete sie dies.

Für Bernhard Litschauer-Hofer, den Sprecher des Wiener Armutsnetzwerks, ist das eine verständliche Reaktion: Menschen, die trotz vieler Anstrengungen unter die Armutsgrenze rutschten, empfänden angesichts von Hilfe in Almosengestalt Scham. Daher gelte es, andere, nichtstigmatisierende Verteilungswege für verbilligte Lebensmittel zu finden.

Wie zum Beispiel im steirischen Kapfenberg. Dort betreibt die Gemeinde mit dem Zusammenschluss österreichischer Lebensmitteleinzelhändler, Nah & Frisch und dem Dachverband für psychische und soziale Gesundheit, pro mente, einen Supermarkt, in dem arme Menschen weniger zahlen müssen als andere. Bedürftige erhalten eine Plastikkarte, an der Kassa bekommen sie mit dieser wortlos Rabatt.

Konkrete Antiarmutsbemühungen würden tatsächlich immer dringlicher, betonte der Gründer und Obmann der Wiener Tafel, Martin Haiderer. Das Auseinanderdriften hoher und niedriger Einkommen sei auch in Österreich, "dem zweitreichsten Land der EU", immer spürbarer. In Wien etwa seien inzwischen bereits 19 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet: Sie müssen im Monat mit weniger als 994 Euro auskommen.

Trotzdem sei Armut für die Politik kein zentrales Thema, abgesehen von Polemiken gegen Bezieher bedarfsorientierter Mindestsicherung, wandte an dieser Stelle die Moderatorin, STANDARD-Redakteurin Irene Brickner, ein, worauf der SPÖ-Nationalratsabgeordnete Franz Riepl den Plan entwarf, im Parlament eine aktuelle Stunde über die sozialen Verwerfungen durchzuführen.

Diese würden künftig weiter zunehmen, prognostizierte der Wirtschaftsforscher Paul Schulmeister. Den Betreibern der Wiener Tafel gab er in diesem Sinn Bertolt Brechts Gedicht Nachtlager mit auf den Weg: "Die Welt wird dadurch nicht anders / das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt / aber einige Männer haben ein Nachtlager", heißt es darin. (red, Management STANDARD, 14./15.9.2013)