Sener Özmen: "Untitled (Megafon)", 2005

Foto: Sener Özmen

Fulya Erdemci, geboren 1962 in Eskişehir (Anatolien), Kuratorin der 13. Istanbul-Biennale, lebt und arbeitet in Istanbul und Amsterdam, wo sie seit 2008 die SKOR-Foundation For Art and Public Domain leitet. Neben der Istanbul-Biennale (von 1994 bis 2000 gehörte Erdemci bereits zum Direktorium), gestaltete sie etwa 2011 den Türkei-Beitrag der Biennale-Venedig, war im Kuratorenteam der Moskau-Biennale 2007 und verantwortete zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. 2002 verantwortete Erdemci zum Beispiel das erste türkische Ausstellungsprojekt für Kunst im öffentlichen Raum, die "Istanbul Pedestrian Exhibitions".

Foto: Manuel Citak

STANDARD: Es war zunächst von Ihnen geplant, die Biennale zu einem Teil im öffentlichen Raum zu veranstalten – auf dem Taksim-Platz und auch im Gezi-Park. Was hätte dafür gesprochen und was führte letztlich dazu, diese Pläne zu verwerfen?

Erdemci: Das Ziel jeder Kunst im öffentlichen Raum ist, Konflikte zu provozieren und sie sichtbar zu machen. Vielleicht muss sie sogar Konfliktmomente hinzuzufügen, um bestimmte Themen sichtbar zu machen. Ich habe daher Orte ausgesucht, die sich stark mit der Protestkultur Istanbuls verbinden: Gezi Park, Taksim-Platz, Tarlabaşı-Boulevard, Karaköy, die Galata-Brücke usw. Es ging darum, spezielle Projekte zu entwickeln, die Diskussionen in einer größeren Öffentlichkeit entfachen. Im Zuge der Gezi-Proteste machte ich jedoch die Erfahrung, dass sogar die friedlichsten Handlungen und Performances der Bürger von der Polizei gewaltvoll abgestellt wurden. Bei denselben Autoritäten, die die Stimmen ihrer Bürger unterdrücken, hätten wir um Bewilligungen ansuchen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es ein stärkeres Statement, sich aus dem öffentlichen Raum zurückzuziehen, also nicht mit diesen Autoritäten zu kollaborieren. Ein Rückzug, der den Konflikt dennoch transportiert. John Cage hat in den 1970er Jahren bei einer Performance am Times Square die Leute dazu motiviert, still zu werden und auf die Stimmen der Straße zu hören, sich ihrer bewusst zu werden. In dem man sich also selbst zurückzieht - absent ist - versucht man die Wahrnehmung auf das zu lenken, was noch immer präsent ist: also das, was im öffentlichen Raum passiert, sicht- und hörbarer zu machen.

STANDARD: Hätte man für eine Biennale, die stärker im öffentlichen Raum stattfindet, nicht auch andere Schwerpunkte bei den ausgewählten Arbeiten setzen müssen - zum Beispiel auf Werke der Performance-Kunst?

Erdemci: Nein. Tatsächlich waren nur vierzehn Projekte für den öffentlichen Raum geplant und einige von ihnen konnten wir nach dem Abbruch des Vorhabens noch adaptieren. Von Tadashi Kawamata zeigen wir die Vorschlagsskizzen für seine Arbeit "Plan for 'Gecekondu'" (Gecekondu [deutsch: "über Nacht"] heißt das auf altem osmanischen Gewohnheitsrecht basierende und seit 1966 verankerte Gesetz, das über Nacht errichtete "Häuser" und damit die vielen informellen Siedlungen am Rande von türkischen Großstädten legalisiert). Die Architekten von Rietveld Landscape haben eine kleine Installation realisiert, damit man erfahren kann wie ihre Lichtinstallation am Taksim Square hätte aussehen können. Aber von Anfang an waren Antrepo No. 3 (Anm.: neben dem Museum Istanbul Modern) und die ehemalige griechische Grundschule (Anm.: beide in Tophane) als Hauptstandorte der Biennale geplant. Aber ihre Frage macht Sinn, denn ich musste bei der Planung tatsächlich auch berücksichtigen, dass ich für einige Arbeiten womöglich gar keine Bewilligung erhalten hätte. Und so hatte ich für diesen Fall einen Plan B: Eine kleine Sektion in der Ausstellung hätte "unautorisierte Projekte" geheißen. Diese wären zwar nicht realisiert worden, hätten dem Besucher die restriktive Situation dennoch erschlossen.

STANDARD: Gerieten ihre Vorbereitungen zur Biennale während der gewaltvollen Ausschreitungen gegen die Gezi- Proteste in eine Krise?

Erdemci: Alle im Team waren sich der schwelenden Spannungen und der öffentlichen Diskussionen in Istanbul bewusst. Das war auch der Grund, warum ich diese Pläne zum öffentlichen Raum schmiedete: Im Januar wurden 80.000 Unterschriften gegen die Pläne zur Umstrukturierung von Taksim-Platz und die Zerstörung des Gezi-Parks gesammelt. Aber niemand von uns hätte sich so ein Erwachen der Zivilgesellschaft erwartet. Von den zugespitzten Geschehnissen in Taksim erfuhr ich bei der Eröffnung der Venedig-Biennale. Wir versuchten daher so schnell wie möglich nach Istanbul zurückzukehren, denn hier veränderte sich wirklich die Welt. Und dann konnten wir gar nicht anderes als auch zum Taksim zu gehen. Dabei waren es nur noch drei Monate bis zur Eröffnung, also eine bereits sehr hektische und verrückte Zeit in der Vorbereitung einer Biennale. Stellen Sie sich das vor! Wir verloren also einen Monat, weil zu jener Zeit einfach anderes wichtiger war: Alle wollten bei Gezi sein, auch meine Mutter. Dort dabei sein zu wollen war keine Frage, die sich nur Intellektuellen, sondern vielen Leuten in Istanbul stellte. Aber es gab auch einen Punkt an dem ich glaubte, mein Team würde kollabieren. Aber sie waren Helden für die Kunst.

STANDARD: Eine Taksim-Aktivistin sagte gestern zu mir, die Proteste hätten die Istanbul-Biennale vorweg genommen. Wie empfinden Sie eine solche Aussage?

Erdemci: Das finde ich sogar sehr gut. Es macht mich froh, das zu hören. Das zeigt nur wie visionär mein Konzept war, das ich im Juli vergangenen Jahres geschrieben habe. Manche Leute denken angesichts der Proteste auf den Straßen, Kunst und Aktivismus sei dasselbe – für mich ist das nicht so. Sie können sich sehr nah sein, voneinander lernen und in so drängenden Zeiten wie jetzt die gleichen Ziele verfolgen, aber ihre Prozesse, die Erfahrungen, die sie ermöglichen, und der Einfluss, den sie ausüben, sind völlig unterschiedlich. Die Kunst kann das, was auf der Straße passiert – schon allein wegen der medialen Zensur – besser betonen. So kann beides zusammen wirken. Die Menschen behandeln mich, als sei ich die Kuratorin der Revolution. Das ehrt mich zwar, aber das bin ich eben nicht. Ich bin die Kuratorin einer Ausstellung.

STANDARD: Warum hat man sich dazu entschlossen, den Eintritt gratis zu machen?

Erdemci: Es gibt dafür mehrere Gründe. Ich wollte es jedoch von Anfang an. Nicht allein, um die Biennale für alle zugänglich zu machen, sondern auch um andere Erfahrungen zu ermöglichen. Denn wenn man für eine Eintrittskarte zahlt, hat man andere Erwartungen und macht auch andere Erfahrungen, die mehr mit Konsum zu tun haben. Wenn es gratis ist, ist es egal, ob man sich beim Besuch nur eine Arbeit anschaut. Wenn man will auch fünf Mal.

STANDARD: Sind die Werke, die sie ausgesucht haben, als eine Art Vorschlag für die in der Türkei lebenden Menschen zu verstehen?

Erdemci: Nicht nur für jene in der Türkei. Ich glaube die ganze Welt ist in einer wichtigen Übergangszeit. Zahlreiche Projekte beziehen sich unmittelbar auf die Türkei, aber viele Projekte wurden lange vor den Gezi-Protesten produziert, kommen aus Lateinamerika oder aus Palästina. Sie wurden von Bürgern der Welt gemacht.

STANDARD: Gab es konkrete Inspirationen für Ihr Konzept und den Biennale-Prolog "Agoraphobia" in Berlin? Zum Beispiel die Revolution in Ägypten?

Erdemci: Nein. Es war für mich wie "Kunst, die die Zukunft vorhersehen kann." 2009 habe ich aber schon eine Ausstellung zum Taksim-Platz geplant;  "Agoraphobia" war also für mich unmittelbar mit der Türkei verbunden. Bereits 2011 war ein Monument (Anm.: das „Denkmal der Menschlichkeit" von Mehmet Aksoy in Kars an der armenischen Grenze, das an den tief verankerten Konflikt zwischen Armeniern und Türken erinnern soll) zensuriert und in Stücke zertrümmert worden, was massive Proteste ausgelöst hat. Man musste also nicht nach Ägypten schauen. Es passierte bereits in diesem Land. Aber wie bereits gesagt, Gezi hätte ich nicht erwartet. (derStandard.at, 15.9.2013)