Rahim Taghizadegan.

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Krisen sind Folgen der Hybris, Komplexität durch Herrschaft bändigen und damit vereinfachen zu wollen. Dieser verhängnisvollen Anmaßung liegt ein Missverständnis zugrunde: Zu "einfach" lassen sich zwei Gegenteile bilden: "komplex" und "kompliziert". Kompliziert sind auf bewusste Handlungen zurückgehende Komplikationen. Komplex hingegen ist das Leben an sich. Die Flucht vor der Komplexität ist Lebensfeindlichkeit. Wenn Menschen die Komplexität der Welt für ihre Zwecke nutzen wollen, stellen sie Pläne auf und konstruieren Institutionen, die auf Nachahmung beruhen. Unser Leben wird dadurch komplizierter. Doch das komplikationslose "einfache" Leben würde dem Menschen viel Komplexität, also Vielfalt, vorenthalten.

Unternehmen sind Versuche, die Komplexität der Welt zum Nutzen und zur Freude von Menschen zu erschließen. Der Nachteil der dadurch nötigen Komplikationen ist, dass sie bald die lebendige Komplexität verdrängen und sich als Ersatz anbieten. Organisationen gewinnen ein Eigenleben und verringern die natürliche Vielfalt zu kontrollierbarer Einfalt. Je größer diese Komplikationen, desto mehr rufen sie nach weiteren komplizierten Hilfsmitteln: Technik und Statistik der Überwachung werden nötig, die Sehnsucht nach vollständiger Information wächst. Doch überall, wo Algorithmen wachen, werden sich Menschen algorithmischer verhalten. Daher sind diese Komplikationen nur Scheinlösungen, sie werden der Komplexität nicht gerecht, sondern ersetzen sie so lange, bis sie bersten.

Komplexität bedeutet stets innere Verbundenheit und gegenseitige Wechselwirkung der Teile. Nicht darin liegt das Problem; komplexere Systeme sind in aller Regel elastischer und weisen dadurch größere Resilienz auf. Erst durch immer kompliziertere Steuerungsversuche frieren einzelne Reaktionsmuster ein und versteifen dadurch die Verbindungsglieder. Die innere Spannung dieser künstlichen Steifheit, die meist mit Feigheit und gedankenlosem Nachahmen verbunden ist, macht sich dann als "Krise" bemerkbar: Das Unternehmen, die Organisation, Institution oder Gesellschaft bildet Bruchlinien aus. Leider ist diese Phase selbstverstärkend: Das Bersten der Strukturen führt zu immer panischerer Kontroll- und Überwachungswut und zu immer schlimmeren Komplikationen.

Die korrekte Antwort auf Komplexität ist Demut, nicht Hybris. Es macht einen großen Unterschied, ob man eine Gruppe von Menschen als komplexes System betrachtet aus Demut gegenüber ihrem freien Willen, ihren Beziehungen, ihrer Vielfalt oder weil man diese Gruppe kontrollieren möchte und deshalb auf der Suche nach vermeintlichen Systemgesetzen ist.

Ersterer Zugang respektiert die Komplexität und hütet sich vor deren Reduktion. Die abgeleiteten Regeln sind deshalb sehr bescheiden und einfach.

Allein an der Wertschätzung der Komplexität wächst jene Demut, die uns vor den hektischen Komplikationen in der gerade wieder ausbrechenden Komplexitätspanik bewahren kann. (Rahim Taghizadegan, DER STANDARD, 14./15.9.2013)