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Oft beginnt die Erkrankung mit Persönlichkeitsveränderungen und Koordinationsstörungen, am Ende steht die rund um die Uhr-Pflege. Nicht jeder Partner hat die Kraft und den Mut, diesen Weg mit zu gehen. Die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe treten mit bislang vier Hochzeiten den Gegenbeweis an.

Vor dem Restaurant "Wienerwald" in der Schönbrunner Straße stehen zehn Personen auf dem Gehsteig in der Abendsonne. Sie begutachten ein außergewöhnliches Fahrrad. Es bietet Platz für einen Rollstuhl. So kann ein gesunder Mensch mit seinem gehbehinderten Partner Radtouren unternehmen.

Eine Frau um die 40 in einem geblümten Sommerkleid mit perfekt lackierten Finger- und Zehennägeln und glänzenden braunen Haaren stellt Fragen. Während sie den Informationen des Fahrradherstellers folgt, wiegt sie sich ununterbrochen vor und zurück, nach rechts und nach links. Ihre Füße vollführen Tanzschritte auf dem Gehsteig, ihre Hände und ihr Kopf drehen sich in alle Richtungen. Sie hält keinen Augenblick still, ihre Bewegungen reißen den Beobachter mit. Die Konzentration auf ihr Gesicht, auf ihren Körper ist beinahe unmöglich. Und überhaupt: Darf man das denn? Einfach hinschauen?

Alles andere als "b'soffn"

"Kaum jemand schaut genauer hin", sagen Kurt und Dorothea Zwettler von der Huntington-Selbsthilfegruppe Wien und Niederösterreich, drinnen im Lokal bei Apfelsaft und Schnitzel. Hier treffen sich in regelmäßigen Abständen Erkrankte, Angehörige, Pfleger und Interessierte zum Austausch.

Die wenigsten erkennen das Krankheitsbild, das hinter den unkontrollierten Bewegungen steht, wissen die Zwettlers. Die meisten Menschen tippen auf Parkinson oder eine spastische Erkrankung. Was aber wirklich weh tut: "Wenn man mit einem Chorea Huntington-Patienten unterwegs ist, kommt manchmal die Reaktion, 'hearst - so früh am Tag und schon b'soffn'. Das trägt dazu bei, dass viele Erkrankte das Haus nicht mehr verlassen wollen", sagt Kurt Zwettler.

Der Begründer und Obmann der Selbsthilfegruppe spricht aus eigener Erfahrung. Neun Jahre lang hat er in den 1990er Jahren seine erste, an Chorea Huntington erkrankte Frau gepflegt. Als sie 30 Jahre alt war, brach die Krankheit  aus. Am Ende konnte sich das Ehepaar nur noch mittels Augenkontakt verständigen. "Ich war der einzige, der immer wusste, was sie sagen will", sagt Zwettler. "Chorea Huntington-Patienten versuchen nämlich, einen ganzen Satz mit einem Wort zu sagen. Das kann niemand verstehen."

Wer den Gen-Defekt trägt, erkrankt

"Am Tag vor dem Tod meiner Frau haben wir noch viel gelacht", erzählt gelernte Koch. Um halb zwei in der Früh musste er zur Arbeit. "Da setzte sie sich auf, gab mir ein Busserl und sagte 'Baba', obwohl sie eigentlich gar nicht mehr reden und sich bewegen konnte. Als ich heimkam, ist sie im Bett auf der Seite gelegen und war ganz still. Sie hat nicht mehr geatmet." Zu diesem Zeitpunkt hatte Zwettler nicht mit ihrem Tod seiner Frau gerechnet, obwohl dieser zwangsläufig am Ende der Erkrankung steht. Doch was definiert das Ende? Wann ist es da?

Ist Chorea Huntington einmal ausgebrochen, kann man nach derzeitigem medizinischen Stand bis zu 20 Jahre lang damit leben. Die fortschreitende neuropsychiatrische Erkrankung ist auch unter Huntington's Disease oder - früher - "Veitstanz" bekannt. Ein Genfehler, der das Eiweiß Huntingtin verändert, liegt ihr zugrunde. Im  Abschnitt eines gesunden Proteins folgt die Aminosäure Glutamin bis zu 35 Mal aufeinander, durch den Gendefekt steigt die Zahl der Aminosäuren. Das Eiweiß beginnt die Nervenzellen zu zerstören. Eines ist sicher: Wer den Defekt in sich trägt, erkrankt - je höher die Zahl der Glutaminkopien, umso früher; meist um das 40. Lebensjahr, manchmal aber auch schon im Kindesalter.

"Meistens ist der Job weg"

Chorea Huntington ist eine seltene, aber nicht sehr seltene Erkrankung. Etwa 1.000 sind laut Selbsthilfegruppe derzeit in Österreich erfasst, doch die Dunkelziffer wird auf das gut Zehnfache geschätzt. - Nicht zuletzt deshalb, weil die Diagnose oft mit Diskriminierung einhergeht.

"Meistens ist der Job weg", wissen die Zwettlers um die Konsequenzen, "und Versicherungen kündigen die Verträge". Das betreffe nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch deren Verwandte. Zu hoch sei Arbeitgebern und Versicherungen das Risiko der Vererbung, denn statistisch gesehen geht  der Gendefekt zu 50 Prozent auf jedes Kind eines Huntington-Genträgers über. Deshalb schweigen die meisten Betroffenen lieber.

Oft beginnt Chorea Huntington mit Persönlichkeitsveränderungen wie Depressionen, Aggressivität, manchmal auch Verfolgungswahn. Später kommen nicht mehr kontrollierbare Bewegungen der Arme, Beine und des Gesichts ("Chorea") hinzu. "Bei mir war es mein Mann, der durch seine objektive Wahrnehmung schon vor mir vermutete, dass die Krankheit sich langsam aber stetig anbahnt", erzählt Petra Fuhry. Ihr selber ist es erst später aufgefallen, da sie - größtenteils beruflich bedingt - körperlich sehr ausgelaugt und müde gewesen war.

Chorea Huntington in der Selbstwahrnehmung

Die junge Frau nimmt ihre Krankheit folgendermaßen wahr: "Gleichgewichtsstörungen, ein blauer Fleck da, ein Kratzer oder eine kleine Schnittverletzung dort, Stolpern und Unsicherheit bei sonst normalen Dingen im Alltag wie Schuhe anziehen." Ihre Bewegungen erlebt sie als "langsam aber stetig schwieriger zu koordinieren. Einfache Dinge, wie zum Beispiel mit der Hand schreiben, fallen schwerer, die Schrift wird zusehends unleserlicher."

Ihre psychische Verfassung hat sich dank Medikation vorerst gebessert. Davor gab es auch schlimmere Zeiten: "Ich war streitsüchtig, suizidgefährdet, einfach durcheinander, und alles war Stress pur", erzählt Fuhry.

Mit dem Fortschreiten der Erkrankung folgen Ess-, Sprach, Schluckstörungen sowie Inkontinenz. Die Betroffenen werden zu Pflegefällen, benötigen künstliche Ernährung über die Bauchdecke (PEG-Magensonde), bis sie am Ende einen verfrühten Tod erleiden.

Die Diagnose erst einmal verdauen

Die Krankheit ist zurzeit nicht heilbar. Medikamente können den Verlauf lediglich verzögern. "Die Forschung steckt bei uns noch in den Kinderschuhen, aber immerhin in den Kinderschuhen", zeigen sich Dorothea und Kurt Zwettler optimistisch. "Die Pharmakonzerne sollten einmal draufkommen, dass es auch etwas anderes gibt, als lukrative Erkrankungen", meint ein Betroffener in der Runde.

Die Diagnose führt zum Neurologen. Eine molekulargenetische Untersuchung in Form eines Blut- oder Speicheltests wird durchgeführt. Dann folgt ein Gespräch, ob der Betroffene das Ergebnis wirklich wissen will, oder nicht. "Diese Diagnose muss man erst einmal verdauen", sagen die Zwettlers. Menschen, die Chorea Huntington bereits bei einem Familienmitglied erlebt haben, wissen, was auf sie zukommt.

Ob sie sich der Diagnose nun stellen, oder nicht: Das Risiko selbst zu erkranken, hängt wie ein Damoklesschwert  über ihnen. So hat sich Susanne B. trotz der Erkrankung ihrer Mutter sowie weiterer Familienmitglieder bislang nicht testen lassen. "Ich würde die Diagnose zurzeit nicht aushalten", sagt sie. Vorher will sie ihre Ausbildung zur Kindergartenpädagogin abschließen. Dass sie sich mit Chorea Huntington dennoch intensiv auseinander setzt, beweist allein ihre Teilnahme an der Selbsthilfegruppe.

Bei ihrer 24-jährige Nichte verhält es sich umgekehrt: Sie hat sich der Diagnose gestellt, weiß, dass sie früher oder später erkranken wird. Auseinandersetzen damit wird sie sich aber erst dann, wenn es soweit ist.

Das Leben so schön als möglich gestalten

Die Atmosphäre an diesem Abend im Restaurant ist fröhlich und entspannt. Auffällig sind auch die vielen Berührungen unter den Teilnehmern. Paare sitzen Hand in Hand; die Hand, die füttert, wird gestreichelt; man umarmt einander. Es wird getrunken, gegessen, gelacht – und geheiratet, ganze vier Mal seit 2006. Auch für Susanne B.s Lebensgefährten ist die Diagnose "kein Thema, diese Beziehung nicht weiterzuführen und zu vertiefen". Die beiden wollen demnächst den Bund der Ehe eingehen.

Im Sommer 2013 haben auch Petra und Gerhard Fuhry ja zueinander gesagt. Die Gewissheit, dass immer größere Herausforderungen auf sie zukommen werden, war kein Hinderungsgrund. "Still sitzen oder stehen geht nicht mehr", schildert Petra ihre augenblickliche Verfassung, "auch wenn es derzeit noch nicht so schlimm ist wie im fortgeschritten Stadium. Aber das kommt noch, ganz sicher". Auch Gerhard ist klar, dass irgendwann die 24 Stundenpflege beginnt.

Emotional komme er ganz gut zurecht, obgleich es für ihn als Mann nicht einfach sei, zusehen zu müssen und nichts dagegen tun zu können. "Das einzige was ich sinnvoll dazu beitragen kann, ist meiner Frau das Leben noch so schön als möglich zu machen." Dazu zählen Stressfreiheit, Urlaube - wenn möglich mit Motorradausflügen verbunden - und sonstige kleine Aktivitäten, die ein wenig Abwechslung in den Alltag bringen.

In guten wie in schlechten Zeiten

Nicht jeder hat die Kraft und den Mut, diesen Weg gemeinsam mit dem Partner zu gehen. "Es heißt doch, 'in guten wie in schlechten Zeiten'", zitiert Petra Fuhry das Ehegelübde und erzählt von einer erkrankten Bekannten, die von ihrem Mann, verlassen wurde. Die Begründung: Er halte die Situation nicht aus.

"Viele Erkrankte vertschüssen sich aber auch selbst. Für immer", wissen Kurt und Dorothea Zwettler. Suizid komme häufig vor; oft weil die Partner sich schon vorher verabschiedet hätten, öfters aber aufgrund großer Angst den Mitmenschen zur Last zu fallen. Geistig sind die an Chorea Huntington erkrankten Menschen bis zum Schluss hellwach. Sie wissen um das ständige Fortschreiten ihrer Erkrankung. "Meine Frau ist im Rollstuhl gesessen, ich habe die Fenster geputzt, und sie hat geweint", erzählt Zwettler. "Dafür haben wir auch viele schöne Sachen erlebt."

Als die Ernährung mit der Nasensonde zum Thema wurde - Anfang der 1990er-Jahre gab es die PEG-Sonde noch nicht - fasste der pflegende Ehemann den Entschluss: "Das tue ich ihr nicht an." Er kochte Pürees, füllte sie in eine Babyflasche, vergrößerte das Schnullerloch, "und es hat tadellos funktioniert". Im Gasthaus ließ er das Essen in der Küche pürieren, später nahm er selbst zubereitetes Essen mit, so konnten sie dem gemeinsamen Vergnügen des Restaurantbesuchs bis zum Schluss nachgehen.

8.000 Kalorien pro Tag

Überhaupt dreht sich ein guter Teil des Tagesablaufs der Chorea Huntington-Patienten um die Nahrungsaufnahme. Dass der Körper ununterbrochen unkontrolliert in alle Richtungen geschüttelt wird, kostet Energie. 8.000 Kalorien verbraucht ein Betroffener am Tag. Spitzensportler kommen dagegen mit 3.000 bis 4.000 Kalorien aus.

"Durch den Fortschritt der Krankheit und die rund um die Uhr-Pflege mit Füttern, Wickeln, Waschen, Anziehen, Medikamentengabe etc., geht es den pflegenden Angehörigen psychisch und physisch nicht gerade gut", wissen die Zwettlers. Die Grenze der Belastbarkeit sei rasch erreicht. Darüber hinaus müssen zwecks finanzieller Sicherung die behördlich notwendigen Maßnahmen wie Pflegegeld oder Berufsunfähigkeitspension erledigt werden.

Auszeiten nehmen

"Wer bemerkt, dass er es nicht mehr allein bewältigt, sollte Hilfe von außen annehmen", lautet der Appell. "Ganz wichtig" für Patienten und Pflegende sei hier die dreiwöchige Reha auf Krankenschein, mit medikamentöser Einstellung und individuell abgestimmten Therapien, die zum Beispiel in Wien im Otto Wagner Spital angeboten wird.

Nach gut zwei Stunden folgt der allgemeine Aufbruch. Draußen auf dem Gehsteig wird noch eine Zeitlang weiter diskutiert, denn es gibt viel zu tun: Ob es um die Organisation eines Benefizkonzertes zwecks gemeinsamer Anschaffung eines Treppenlifts geht, um den kreativen "Umbau" einer Löschdecke, die, mit Kopf- und Armlöchern versehen, einem erkrankten Raucher den Genuss bis zum Ende gewährleistet, oder um das neue Fahrrad, das gemeinsame Radtouren mit Rollstuhlfahrern ermöglicht: Auch wenn es in Zeiten wie diesen an Spendenfreudigkeit hapert, ist die Huntington-Selbsthilfegruppe nie um Ideen verlegen – Lösungen inklusive. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 17.9.2013)