Kobe Desramaults ist 35 und kocht auf seinem Bauernhof "In de Wulf", was der eigene Taubenkobel, die Felder und die nahe Nordsee hergeben. Er gilt als Vorreiter einer neuen, ultralokalen Hochküche.

Foto: Piet de Kersgieter

Makrele mit grünem Rettich und wilden Kresseblüten.

Foto: Piet de Kersgieter

In Salzteig gebackener Knollensellerie.

Foto: Piet de Kersgieter

Mandarinenkürbis mit Sanddorn.

Foto: Piet de Kersgieter
Foto: Piet de Kersgieter
Foto: Piet de Kersgieter

Charcuterie aus hauseigener Herstellung.

Foto: Piet de Kersgieter

Erst Dänemark - und nun Belgien. Es ist schon bemerkenswert, wie sich kleine, kulinarisch vergleichsweise unauffällige Länder zu Brennpunkten der Kochkunst entwickeln.

War es in Dänemark die Rückbesinnung der Hochküche auf lokale Ingredienzien und Techniken, die Wiederentdeckung von Lebensmitteln aus Wildsammlung in Kombination mit einem ebenso intelligenten wie spielerischen, innovativen Zugang zum Gast, so macht Belgien seit kurzem mit einer ganz anderen, nicht minder erstaunlichen Entwicklung auf sich aufmerksam: Zahlreiche Spitzenköche haben sich dazu entschlossen, ihre Gourmettempel in den Städten aufzugeben, um aufs Land zu ziehen.

Köche, Bauern, Gärtner

Köche wie Sang Hoon Degeimbre vom Sternerestaurant L'Air du Temps in Namur zum Beispiel oder der Dreisterner Gert de Mangeleer von Hertog Jan bei Brügge werken nun auf dem Land - als Köche, aber auch als Bauern und Gärtner.

"Ich kann viel unmittelbarer auf den Takt der Natur und der Jahreszeiten eingehen", sagt Degeimbre, der sich bei Liernu auf einem weißen Bauernhof inmitten hauseigener Felder etabliert hat und mit dem Ex-Banker Benoît Blairvacq einen Quereinsteiger als Gärtner fand: "Wir sind jeden Morgen auf den Feldern, kosten dies und das, erlauben uns alle Freiheiten", erzählt Blairvacq, "dabei kann unheimlich viel Kreatives - aber auch Verrücktes entstehen." Experimente mit unreifem Gemüse etwa, oder, im Gegenteil, Versuche, etwas erst im Stadium radikaler Überreife zu verarbeiten.

"Zeitgenossenschaft im Terroir"

Auf dem Teller entstehen so subtile Kompositionen aus konzentrierten Gemüseauszügen, aus Extrakten, Fermentationen - und dem Besten, was benachbarte Vieh- und Geflügelzüchter und das Meer zu bieten haben. "Zeitgenossenschaft im Terroir", nennt das Degeimbre, "die Erkenntnisse der Vorangegangenen achten - und sie im Heute neu denken."

Degeimbre wäre aber kaum da, wo er heute kocht, wenn ein junger Koch aus der anderen Reichshälfte, dem kulinarisch lange belächelten Flandern, nicht vor Jahren auf einem Hof mit dem schönen Namen In de Wulf seine Idee einer ultralokalen Küche entwickelt hätte. Wobei der junge Kobe Desramaults damals keine andere Wahl hatte, als ganz genau das zu tun, womit er seit ein paar Jahren als aufsehenerregendster Koch Belgiens gehandelt wird.

Desramaults, der mit seinen 33 Jahren, den (ausnahmsweise einmal wirklich kunstvollen) Tätowierungen und dem schüchternen Lächeln beinahe wie ein Teenager wirkt, ist bereits seit 2005 in einem verlassenen Kuhdorf namens Dranouter zugange. Nach der Lehrzeit bei Sergio Herman und Adrià-Schüler Carlos Abellan in Barcelona (Comerç 24) kam er zurück auf den elterlichen Hof, weil die Mutter das Bistrot, das sie dort seit Kobes Geburt betrieben hatte, aufgeben musste.

Lange Reifezeiten

"Der Anfang war schwer, ich hab lange allein mit einem Abwäscher gearbeitet. Mit dem ersten Stern aber kamen interessierte Gäste", erzählt er in seiner Küche. Inzwischen machen sich hier zwölf Köche an gewaltigen Nordseekrabben zu schaffen, schlagen Sellerieknollen in Salzteig, verbrennen hochkonzentriert Brot (wird später als Idee einer Sauce zu kurz gebratenem Lamm auf dem Teller erscheinen) oder entsaften Brennnesseln. Die Küchensprache ist Englisch, es gibt Iren, Schotten, aber auch einen Türken und Mexikaner in der jungen Mannschaft - "aus Österreich oder Deutschland aber hat sich noch nie jemand beworben".

Lamm, Rind, Geflügel bekommt Desramaults bei Bauern jenseits der gerade fünf Kilometer entfernten Grenze zu Frankreich. Fisch und Meeresfrüchte werden unheimlich sachte behandelt, beim Fleisch hingegen schwört Desramaults auf lange Reifezeiten. Im Kühlhaus hängt ein Viertel Rind im Ganzen ab ("das hab ich seit gut zwei Monaten hier"), daneben baumeln ein paar gerupfte Hühner an langen Hälsen. Charcuterie bis hin zum luftgetrockneten Speck stellt er selbst her.

Wenngleich derlei Herrlichkeiten in vielen der 16 Gänge des täglich variierten Menüs (125 EURO) auftauchen, so ist es doch fast immer Gemüse, zum Großteil aus den eigenen Gärten, das den Ton angibt. Die Gärten und Felder ziehen sich rund ums Haus, es gibt einen massiven, holzbefeuerten Brotbackofen im Garten, einen Teich, in dem sich Enten tummeln - und einen Taubenkobel, in dem tatsächlich überaus fleischige, weiße Tauben gurren.

"Für Gäste, die sich auskennen"

Die stehen zwar nicht auf der Karte, meist hat Desramaults aber welche vorrätig, "für Gäste, die sich auskennen", wie er mit stillem Lächeln sagt. Sie sind nämlich das Ausgangsprodukt für jenes Gericht, das Desramaults als das vielleicht Typischste für In de Wulf sieht - obwohl Gemüse darin nicht vorkommt. "Wir rupfen die Tauben, füllen sie mit geröstetem Heu, räuchern sie für ein paar Minuten und lassen sie zwei Monate reifen, um die Enzyme arbeiten zu lassen." Was so schnell gesagt ist, erfordert in der Praxis höchste Expertise - Reifezeiten wie diese bringt man nur mit akribischer Hingabe zu einem guten Ende.

Am Tisch landet explizit kurz gebratene Taube, filetiert, gesalzen - und sonst nichts. In eine Speisenfolge, wo zarte Kompositionen und fein gesetzte Kontraste den Stil prägen, fährt diese Taube wie ein Schwert hinein. Der Geschmack, von einer Macht und Dichte, die einem fast den Atem raubt, prägt sich für Tage am Gaumen ein. Desramaults ist ein ganz stiller, sanfter Koch, ein Träumer, kein Mann von Sprüchen, Posen. Jedoch: Wer solche Gerichte zu Tisch bringt, muss auch eine rebellische Ader haben - und diebische Freude am Kochen. (Severin Corti, Rondo, DER STANDARD, 20.9.2013)