Treppe, die im Stadtviertel Findikli am Bosporus in Istanbul nach Cihangir hinaufführt.

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Stadtplanung ist so eine Sache. Da kann einiges danebengehen, wie man im Frühsommer in Istanbul gesehen hat. Der Gezi-Park steht nun wie eine Burg und darf ungeachtet allen juristischen Nachgewurstels als politisch unantastbar gelten. Auch der eine Straßentunnel unter dem Taksim-Platz und entlang des Parks, den sich Regierungschef und Stadtverwaltung eingebildet haben, ist seit vergangener Woche für Auto/Bus/Lkw offen. Für die Behübschung der stadion-großen Betonplatte, die nun den wichtigsten Platz der Republik ziert, fällt der konservativ-muslimischen Regierung sicher etwas ein. Singende Springbrunnen oder Tulpenbeete in Form einer - richtig - Tulpenblume gelten hierzulande als letzer Schrei.

Hüseyin Çetinel, Forstbeamter a. D., hatte allerdings grundsätzlich wenig Vertrauen in das stadtgestalterische Denken der Istanbuler Behörden. Ende August kaufte er sich ein paar Eimer Farbe, bunt gemischt, engagierte den Schwiegersohn und machte sich dann an die Arbeit. In vier Tagen strich er die Treppe, oder genauer gesagt: die Stirnseite der Treppenpodeste, in allen Regenbogenfarben und gezählte 137 Stufen hoch, von der Meclis Mebusan Caddesi in Findikli am Bosporus, hinauf zum Beginn des Cihangir Yokuşu. (Es sei in diesem Zusammenhang auf die noch recht junge Wissenschaft der Scalalogie verwiesen, ins Leben gerufen durch den deutschen Denkmalpfleger und Treppenfreund Professor Friedrich Mielke)

Ein durchschlagender Erfolg. Seither wird überall in türkischen Städten gepinselt und auch über die Grenzen der Türkei hinaus. Citizen-painting sozusagen.

Natürlich geht das in einem ordentlichen Staat so nicht, weil, wo sollte das hinführen, wenn plötzlich jeder mit dem Pinsel ... In Izmit, der Industriestadt am Ende des Marmarameers sind Anfang September fünf junge Herren von der Polizei wegen illegalen Treppen Bemalens festgenommen worden, und auch Hüseyin Çetinel blieb eine bittere Erfahrung nicht erspart, als am 30. August - es muss im Zwielicht des frühen Morgens gewesen sein - Arbeiter der Stadtverwaltung von Beyoğlu anrückten und die Treppe wieder grau pinselten.

Der 64-Jährige war außer sich: "Alles ist farbig, die Katzen sind farbig, die Vögel haben verschiedene Farben, die Blumen, die Flaggen der Länder ..." Die Treppe aber durfte es nicht sein. Erst einmal. Treppenmaler Çetinel wies dabei rasch den Verdacht zurück, er sei Teil der Gezi-Protestbewegung und habe mitten in Istanbul die Regenbogenfarben der Schwulen- und Lesbenbewegung platziert. "Ich bin kein Aktivist, mein Herr. Ich gehöre zum Volk", beschied er einem Journalisten.

Aber dann wiederum ist nun alles Gezi in der Türkei, und die Istanbuler Stadtverwaltung will sich ungern ein weiteres Mal als autoritär und konservativ vorführen lassen. "Ein originelles und wundervolles Projekt", zwitscherte der Bürgermeister des Stadtteil Beyoğlu, Ahmet Misbah Demircan über Twitter. Nur müsse das Recht eingehalten und mögliche Klagen berücksichtigt werden, erklärte der Bürgermeister, der während der Besetzung des Gezi-Parks im Mai und Juni auffallend still war. "Wir werden ein Mini-Referendum machen", schrieb Demircan, "meine Stimme lautet Ja". Twitterte und ließ die Treppe noch einmal streichen, dieses Mal wieder in Farbe und von den Stadtbediensteten (was das Bürgermeisteramt absurderweise abstritt, aber schnell durch Fotos widerlegt wurde, die Passanten gemacht hatten.

Es ist nicht bei dieser einen Treppe geblieben und auch nicht nur bei der Kunst der Stufenbemalung. In der Bahariye Caddesi in Kadiköy zum Beispiel, einer langen Einkaufsstraße die nun mehrere Nächte hindurch Schauplatz von Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern und Polizisten war, sind die Betonkugeln bunt bepinselt worden, die das Gleis der Trambahn säumen. Zur Malaktion aufgerufen hatte die Caferağa Dayanişmasi, das "Informationskomitee" im Stadtteil, das sich nach dem Vorbild der Taksim Dayanişmasi (Taksim-Information) gebildet hat. Kadiköys Bürgermeister hatte nichts dagegen einzuwenden, schließlich gehört er der Oppositionspartei CHP an. Das Ergebnis im Caferağa-Viertel mag im Gesamtbild etwas nach Kindertagesstätte aussehen, die Wirkung der Gezi-Protestbewegung ist aber deutlich: Die Türken nehmen den öffentlichen Raum in Besitz. (Markus Bernath, derStandard.at, 19.9.2013)