Gero Kramer ist ein Mann. Er ist jenseits des 40. Lebensjahres. Zudem lebt er in Österreich, also in einer westlichen Industrienation. Das allein macht ihn zu einem Verdächtigen. In seiner Prostata könnten sich jederzeit Krebszellen entwickeln. Das sagt er selbst. Denn neben den genannten Eigenschaften ist Gero Kramer auch Leiter des Forschungslabors für Uroonkologie an der Med-Uni Wien, Experte auf diesem Gebiet. "Die Diagnose Prostatakrebs stellt uns vor ein Dilemma", stellt er nüchtern fest. Schaut man nur genau genug hin, würde man bei den meisten Männern um die 50 Jahre bösartig veränderte Zellen in der Prostata finden. "Doch die meisten werden niemals an Krebs erkranken", fügt Kramer hinzu. Allein: Bei wem sich bösartige Tumoren entwickeln, die letztlich zum Tod führen können, kann in frühen Stadien nicht festgestellt werden. Bis dato fehlt eine zuverlässige Methode, die wirklich nur gefährdete Männer herausfiltert.

Glaubt man Cory Abate-Shen vom Columbia University Medical Center in New York, ist ein solcher Test in Reichweite. Die US-Wissenschafter untersuchten Gene aus Gewebeproben von Männern in unterschiedlichen Erkrankungsstadien. Anders als die zuvor an der Aufgabe gescheiterten Forscher suchten sie nicht nach solchen, die mit aggressivem Tumorwachstum in Zusammenhang stehen, sondern nach Genen, die mit dem Alter und dem Ruhezustand der Zelle in Verbindung stehen. Von 377 Kandidaten filterten sie drei Gene heraus. Hohe Aktivität der Gene bedeutet Entwarnung, geringe weist auf eine aggressive Form des Karzinoms hin. Zudem vereinfachten sie den komplizierten Gentest zu einer simplen Gewebefärbung. Damit untersuchten sie 41 Patienten und identifizierten sie korrekt.

Noch sei die Zahl der Patienten zu klein, um den Gentest routinemäßig einzusetzen, sagen die Autoren selbst. Sollte sich aber in weiteren Studien seine Zuverlässigkeit bestätigen, wäre Patienten wie Medizinern ein wichtiges Hilfsinstrument an die Hand gegeben. Denn beide sind derzeit in einer schwierigen Situation: Wie erklärt der Arzt einem verängstigten Patienten, dass es besser wäre, nichts gegen den vermeintlichen Krebs zu unternehmen - außer ihn häufig zu kontrollieren? Wie reagiert der Kranke auf einen Arzt, der abwarten will?

Grenzen von PSA-Werten

Deswegen sind derzeit indirekte Prognoseverfahren Standard. Der bekannteste wie auch umstrittenste Test ist die Bestimmung des PSA-Wertes. Er gibt die Konzentration eines Eiweißes an, das die Prostata ausscheidet. Gewöhnlich soll es die Spermienmasse verflüssigen. Sobald es jedoch im Blut eine kritische Grenze überschreitet, besteht der Verdacht, dass sich ein Tumor entwickelt. Bei den meisten Männern aber wabert er im Graubereich - und kann ein Hinweis auf Entzündungen, gutartige Prostatavergrößerungen oder eben Krebs im frühen Stadium sein.

Tatsächlich nagt das Prostatakarzinom am Fundament der Krebsvorsorge: dem Drang, möglichst früh bösartige Geschwüre zu entdecken, um ihre Ausbreitung zu verhindern. Noch bis vor wenigen Jahren operierten Ärzte oftmals, sobald sie kleinste Hinweise auf ein Geschwür fanden. Patienten nahmen die Begleiterscheinungen wie Inkontinenz oder Impotenz in Kauf. Bereits 2002 kam eine Untersuchung des National Cancer Institute in den USA zu dem Schluss, dass bis zu 80 Prozent aller Prostatapatienten überdiagnostiziert und überbehandelt seien. Inzwischen sei man zwar vorsichtiger, so Kramer, die Eingriffe haben sich seit 2008 fast um ein Drittel reduziert. Wie viele davon jedoch nach wie vor unnötig waren und aus dem Gefühl entsprangen, etwas tun zu müssen, bleibt ungewiss. (Edda Grabar, DER STANDARD, 19.9.2013)