Dan Pinchbeck

Foto: The Chinese Room

"Dear Esther"

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"Amnesia - A Machine for Pigs"

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"Everybody's Gone To The Rapture"

Foto: The Chinese Room
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Eine sturmumtoste schottische Insel, ein Erzähler aus dem Off, der aus melancholischen Briefen an eine gewisse Esther vorliest, keine Gegner, keine Waffen: "Dear Esther"  ist ein außergewöhnliches Spiel, das seit seiner Veröffentlichung 2012 verlässlich die Spielergemeinde spaltet: Während die einen mangels herkömmlicher Spielelemente gar anzweifeln, ob "Dear Esther" überhaupt ein Spiel ist, sehen andere in der einzigartigen Atmosphäre und der fragmentierten, offenen Erzählung des First-Person-Spaziergangs einen aufregend frischen Zugang zum interaktiven Erzählen und schwärmen von der meditativen Melancholie und dem außergewöhnlichen Soundtrack der britischen Musikerin Jessica Curry. 850.000-mal verkaufte sich die Standalone-Version von "Dear Esther", das eigentlich bereits 2008 als Gratis-Mod für "Half-Life 2" erschienen war.

Dan Pinchbeck, der kreative Kopf hinter "Dear Esther" und Gründer des kleinen Entwicklerstudios The Chinese Room, war selbst überrascht vom großen Erfolg. "Eigentlich hatten wir nur gehofft, 20.000 Exemplare zu verkaufen, um unseren Kredit an den Indie-Fund zurückzahlen und Jessica und Rob (Briscoe) bezahlen zu können. Es ist ganz schön unglaublich, wie sehr die Spieler 'Dear Esther' angenommen und geliebt haben. Die Zeit war wohl einfach reif für reflektiertere, emotionalere Spiele. Und der Erfolg neuerer Spiele wie etwa "Gone Home" zeigt mir, dass diese Ideen Bestand haben."

Video: "Dear Esther"

Von der Uni zur Spieleentwicklung

Pinchbeck ist ein Spielemacher mit ungewöhnlicher Vergangenheit: Der Brite mit Theaterbackground unterrichtete seit 2003 Game Design an der Universität Portsmouth; die Gratismod "Dear Esther" war ursprünglich Teil eines Forschungsprojekts. In diesem Rahmen entstand auch 2009 ein anderes Experiment: "Korsakovia", wie das Original-"Dear Esther" eine Mod für "Half-Life 2", stellte Spielererwartungen auf die Probe: Wie im namensgebenden Korsakow-Syndrom, einer psychischen Krankheit, in der Realität und Fantasie ununterscheidbar werden, simuliert "Korsakovia" gleichsam eine verunsicherte (und verunsichernde) Welt des Wahnsinns - Ergebnis war ein "survival horror First-Person-Spiel", in dem die Realität stückweise zerbricht.

Der akademischen Welt hat Pinchbeck inzwischen den Rücken gekehrt, um sich ganz auf die Spielentwicklung konzentrieren zu können, seine Themen begleiten ihn aber weiterhin. Im aktuellen Spiel von The Chinese Room leisten Pinchbeck gewissermaßen die in "Korsakovia" versuchten Experimente mit dem Horror gute Dienste: In "Amnesia - A Machine for Pigs", dem Quasi-Nachfolger zum Indie-Horrorbestseller "The Dark Descent" der schwedischen Entwickler Frictional Games, reduziert Pinchbeck das Gameplay wie in seinen experimentellen Titeln auf das absolute Minimum und lässt, wie in "Dear Esther", neben einer fragmentierten, uneindeutigen Story viel Raum für eigene Interpretation des Spielers - ein mutiger Schritt im Medium, in dem es traditionell meist eine "richtige" Lösung, eine "korrekte" Deutung gibt.

Video: "Amnesia - A Machine for Pigs"

Horror und Immersion

Trotzdem - oder vielleicht eher: genau deshalb - vermittelt "Amnesia - A Machine for Pigs" auf beeindruckende Weise durch Story, Atmosphäre und vor allem auch Jessica Currys beeindruckenden Soundtrack ein unbestimmtes Grauen, wie es den großen Horrorfranchises der AAA-Branche längst nicht mehr gelingt. "Wenn man in einem Horrorspiel - wie etwa in der 'Dead Space'-Reihe - Waffen als Spielmechanik einführt, geht es plötzlich nicht mehr um den emotionalen Angstzustand des Schreckens - plötzlich wird das Spiel zur schlichten Problemlösungsaufgabe. Wenn die Basis für diese sogenannten 'Horrorspiele' nur ein bisschen oberflächliche Splatterkosmetik und Jump-Scares sind, ist das einfach nur Bequemlichkeit der Entwickler", kritisiert Pinchbeck. "Für 'Machine for Pigs' haben wir uns auf die Immersion konzentriert, auf Emotion, die Story. Und wir haben versucht, Grenzen auszutesten und nicht unbedingt den sicheren Weg zu gehen. Es geht um Emotionen - ein Spiel ist ja letztlich nichts anderes als eine Architektur für emotionale Erfahrungen."

Mit schon erwartbaren Resultaten: Wie schon bei "Dear Esther" spaltet auch der Nachfolger zu einem der beliebtesten Horrorspiele mit diesem speziellen Zugang die Fangemeinde. Manche Fans des Originals bemängeln das stark reduzierte Gameplay - der Großteil der Kritiker allerdings würdigte ein Spiel, das gerade in seiner Konzentration auf ein eher unbestimmtes Grauen länger im Gedächtnis bleibt als ein x-beliebiger Slasher. "Amnesia - A Machine for Pigs" ist diesbezüglich ein unverkennbar typisches Chinese-Room-Spiel geworden.

Weltuntergang für Forschernaturen

Auch der kommende Titel von The Chinese Room sorgt schon Monate vor Release für Aufregung, allerdings aus ganz anderen Gründen. Mit "Everybody's Gone To The Rapture" hat sich Sony, wie auf der Gamescom jüngst angekündigt wurde, die exklusiven Veröffentlichungsrechte für den inoffiziellen Nachfolger zu "Dear Esther" für die Playstation 4 gesichert. Im wahrscheinlich nächstes Jahr erscheinenden First-Person-Explorer sollen Spieler in der Gestalt von sechs unterschiedlichen Figuren durch eine riesige, frei erforschbare Welt wandern, die menschenleer ist - in der titelgebenden "Rapture", der Himmelfahrt oder Entrückung, sind alle Mitmenschen wie vom Erdboden verschluckt. Durch die unterschiedlichen Figuren bekommen die Spieler so auch unterschiedliche Facetten des Weltuntergangs zu Gesicht, der eine Stunde nach Spielbeginn unweigerlich eintritt. Das in der CryEngine3 verwirklichte Spiel wird den Spielern allerdings nicht den altbekannten Auftrag erteilen, den Weltuntergang zu verhindern, sondern die Möglichkeit bieten, aus verschiedenen Perspektiven das Fallen der Dominosteine zu erleben.

Video: "Everybody's Gone To The Rapture"

Pragmatische Gründe

Dass sich Pinchbeck, der immerhin in der dem PC ureigenen Moddingszene begonnen hat, nun für diesen Titel exklusiv Sonys Konsole verpflichtet, hat zu Verstimmungen in Fankreisen geführt - er selbst nennt für den Plattformwechsel allerdings pragmatische Gründe: "Wir als kleines Studio hatten selber einfach nicht die Ressourcen, um unsere künstlerische Vision für 'Rapture' zu verwirklichen - und genau darum geht es doch bei dem ganzen Indie-Spirit. Uns geht es nur um das Spiel: Dieses Mal erschien uns Sonys PS4 als passende Plattform, um uns zu verwirklichen."

So darf sich diesmal vor allem die von Sony zunehmend gepflegte Indie-Community auf der kommenden PS4 über ein weiteres Experiment von The Chinese Room freuen. Das heißt aber nicht, dass die Zukunft in Stein gemeißelt ist: "Es wird immer schwieriger, einzuschätzen, wohin sich Spielkultur, Indie-Szene und Hardware entwickeln. Auf jeden Fall wollen wir auch in Zukunft an Spielen arbeiten, hinter denen wir mit aller Leidenschaft stehen können. Was hätte Games-Entwicklung sonst für einen Sinn?" (Rainer Sigl, derStandard.at, 22.9.2013)