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Neuropsychologisches Training kann helfen, im Alltag besser klarzukommen. Ein Tipp für MS-Patienten: "Den Tag gut organisieren, alles aufschreiben und genügend Pausen machen."

Verdammt nervig findet es die junge Frau. Ständig müsse sie alles aufschreiben, erzählt die 33-Jährige in ihrem Blog. Auch treffe sie keine Verabredungen mehr, weil sie diese vergisst. Die junge Frau hat seit acht Jahren Multiple Sklerose (MS) - eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Je nachdem, wo die Entzündungsherde sind, verursacht MS Lähmungen in Beinen oder Armen, Sehstörungen oder Missempfindungen auf der Haut. "Bis vor einigen Jahren dachten wir, körperliche Symptome stünden im Vordergrund, sagt Christian Enzinger, stellvertretender Leiter der Abteilung für Neurologie an der Med-Uni Graz, "heute wissen wir, dass bei jedem Zweiten das Hirn nicht so gut arbeitet wie bei Gesunden. Aber mit einer frühen Therapie kann man gegensteuern."

Jean-Martin Charcot, der Entdecker der Krankheit, beobachtete schon Ende des 19. Jahrhunderts bei vielen seiner Patienten Gedächtnisschwächen, nachlassende intellektuelle Leistungen und weniger Emotionen. "Es gab damals noch nicht die diagnostischen Möglichkeiten, um das festzustellen", sagt Enzinger. Funktionieren bestimmte Hirnleistungen nicht mehr so gut, nennen Mediziner das kognitive Störungen. Bei MS-Patienten äußert sich das oft durch Störungen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit. Betroffene denken langsamer, brauchen länger, um Entscheidungen zu treffen oder komplizierte Zusammenhänge zu verstehen.

Einfach wird kompliziert

"Es ist so, als würde beim Computer der Arbeitsspeicher nicht ausreichen", erklärt Enzinger. Gleichzeitig ablaufende Ereignisse können eine Herausforderung werden, etwa Autofahren und dem Beifahrer zuhören. Auch das Planen fällt vielen schwer, etwa ein Abendessen für Freunde zu kochen. Manche Patienten sprechen nicht mehr so flüssig oder benutzen einfachere Wörter. "Die kognitiven Symptome können schon früh im Verlauf der Krankheit auftreten, manchmal sogar, bevor der Arzt die Diagnose stellt", sagt Maria Pia Amato, leitende Neurologin an der Uniklinik in Florenz. Amato erforscht die kognitiven Störungen bei MS. Es lasse sich weder vorhersagen, bei wem die Beschwerden auftreten, noch wie diese sich entwickeln, erzählt Amato.

Simultan wahrnehmen

Die Diagnose wird mit neuropsychologischen Tests und speziellen Kernspintomografie-Techniken gestellt. "Mit den neuen Aufnahmen wissen wir jetzt, dass MS eine Netzwerkstörung ist", sagt Enzinger. "Das heißt, dass das Gehirn bei Bedarf nicht mehr so gut zusätzliche Hirnbereiche anschalten kann, wenn man mehrere Sachen gleichzeitig denken oder machen will." Wichtiger als die Tests sei aber, wie sehr Patienten im Alltag eingeschränkt sind, sagt Jürg Kesselring, Chefneurologe im Schweizer Valens, einer großen Rehabilitationsklinik. "Bei einem auffälligen neuropsychologischen Testergebnis darf man Betroffenen nicht gleich als hirnkrank abstempeln, denn manchmal schneiden auch Gesunde schlecht ab", sagt er. Im Kernspin sieht man mitunter nur eine kleine Läsion, obwohl Patienten deutliche Beschwerden haben.

Hirntraining

Neuropsychologisches Training kann helfen, im Alltag besser klarzukommen. Dabei bekommen MS-Patienten praktische Tipps - etwa Notizzettel gegen Gedächtnisstörungen einzusetzen, sich nur auf eine Sache zu konzentrieren oder mehr Zeit einzuplanen, um Dinge durchzudenken. Computerbasierte Übungen können die Aufmerksamkeit verbessern und das Arbeitsgedächtnis trainieren. Kleinere Untersuchungen zeigen, dass solche Therapien Wirkung zeigen. Die Qualität dieser Studien ist jedoch nicht überzeugend, größere Untersuchungen fehlen.

"Bis jetzt wurde in keiner Studie überzeugend gezeigt, dass Medikamente kognitive Störungen wirklich verbessern können - weder die gängigen MS-Mittel, noch andere", sagt die Neurologin Amato. In der Praxis hätten sich die Mittel aber nicht bewährt, meint auch Kesselring. "Ich glaube nicht, dass man mit einer Tablette die Hirnleistung verbessern kann. Die Abläufe im Hirn sind viel zu komplex dafür." Für viel wichtiger hält der Neurologe, dass man sich wohlfühlt. "Man soll nicht so streng mit sich sein und akzeptieren, dass manches nicht mehr so geht wie früher", rät auch Christian Enzinger. Die junge MS-Bloggerin hilft sich mit einem einfachen Rezept: "Den Tag gut organisieren, alles aufschreiben und genügend Pausen machen!" (Felicitas Witte, DER STANDARD, 21.9.2013)